Im Interview

Gunter Dueck

17/07/2018
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Herr Dueck, Sie haben in einem Artikel geschrieben, dass mit der Digitalisierung zu wenig Hoffnung verbunden ist. Wie meinen Sie das?

Gunter Dueck: Es gibt ein grundsätzliches Bedauern, dass der Computer unsere Arbeitsplätze schreddert. Im Fokus stehen dabei vor allem Berufe auf intellektuell niedrigem Niveau, wie beispielsweise das Verbuchen von Reisekostenbelegen, was in Zukunft elektronisch ausgeführt wird. Anspruchsvolle Arbeiten hingegen bleiben und bei ihnen muss man sehr viel besser sein als bisher. Für Arbeitnehmer bedeutet dies, dass man sich bei Jobs mit einem hohen Routineanteil überlegen muss, was die eigentliche Kernkompetenz des jeweiligen Berufs tatsächlich ist. Steuerberater haben meistens fünf, sechs Leute, die sich mit Routinearbeit befassen. Fallen diese Leute weg, ist der Steuerberater alleine. Verlagern sich dann noch die einfachen Fälle ins Internet, muss er sich ausschließlich schwierigen, beratungsintensiven Fällen widmen. Steuerberater ist ein Berufsstand, der sich aufgrund regelmäßig stattfindender Steuergesetzesänderungen konstant weiterbilden muss. Finden diese Steuergesetzesänderungen aber einfach in einer Software statt, was bliebe dann noch zu lernen? Der Steuerberater der Zukunft muss daher in der Lage sein, zum Beispiel Managementunterstützung zu geben. Damit vollzieht sich für ihn eine Kompetenzverlagerung in Richtung Unternehmensberatung. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, über welche Art von Veränderungen wir uns im Rahmen der Digitalisierung Gedanken machen müssen. Einfach nur auf die Industrialisierungsprozesse zu schimpfen, wäre zu wenig.

„Statt zu kaufen, sollten Unternehmen selbst etwas aufbauen“

Neben den Veränderungen der Berufe entwickeln sich mit der Digitalisierung neue Wege der Wertschöpfung. Welche Chancen sehen Sie hier?

Gunter Dueck: Durch die verschiedenen Plattformen, die mit der Digitalisierung aufkommen, lassen sich große Fortschritte erzielen, beispielsweise bei Kundenfreundlichkeit oder Geschäftsmodellen. Nehmen wir das Beispiel der Bohrmaschine. Die meisten Menschen bohren nur ein paar Löcher pro Jahr. Muss ich deshalb eine Bohrmaschine besitzen? Digitale Plattformen und die Sharing Economy bedeuten: Es kommt einer zum Bohren vorbei und ich zahle zum Beispiel fünf Euro pro Loch. Dann braucht man nur zehn Prozent der Bohrmaschinen von heute. Beim Carsharing ist es genau das Gleiche. Auch hier braucht man nur ein Sechstel der Autos. Bei Konsumgütern ist das natürlich anders.

Kundenorientierung und Kernkompetenzen sind die beiden Themen, die vor allem B2B-Unternehmen aktuell stark umtreiben. Viele holen sich deshalb Berater ins Haus. Sie haben einen Artikel geschrieben, der heißt „Wir lassen uns helfen, bis wir dumm sind“. Ganz allein geht es aber auch nicht, oder?

Gunter Dueck: Tatsächlich gibt es Unternehmen, die versuchen, ihre digitale Kompetenz selbst zu entwickeln. Das sieht man zum Beispiel in vielen IT-Zentren der öffentlichen Verwaltung. Hier liegt der Altersdurchschnitt oft bei Mitte 50. Ohne fremde Hilfe finden diese nicht ihren Weg in die Amazon-Welt. Die Mitarbeiter müssten mal ins Silicon Valley geschickt und Strukturen radikal verjüngt werden. Mit „Wir lassen uns helfen, bis wir dumm sind“ meine ich die Personen, die Digitalisierung nicht lernen wollen und das komplett durch Externe erledigen lassen. Sie denken, die Kernkompetenz der alten Company bleibt und das Digitale ist eine Art Zusatzqualifikation, die von außen eingekauft werden kann. Das ist jedoch falsch, denn das Digitale wird zur Kernkompetenz. Deshalb muss man sich immer fragen, was die neuen Kernkompetenzen sind. Das Digitale ist ein unbedingter Teil davon, weswegen ich es hochgefährlich finde, wenn dieser Teil von Beratern übernommen wird. Im schlimmsten Fall geht das so weit, dass Unternehmen sich beraten lassen, bis sie keine eigenen Kernkompetenzen mehr haben. Die Alten werden dann nicht mehr gebraucht und die Neuen werden eingekauft. Gute Beratung heißt ja, Personen dabei zu helfen, sich selbst zu helfen. Gibst du dem Menschen Fisch, dann ist er kurzzeitig satt, aber lehrst du ihn fischen, ist er immer satt. Der Berater gibt am liebsten den Fisch. Darüber hinaus bin ich auch ein bekennender Kritiker von CDOs. Man kann einem einzigen Menschen nicht die Aufgabe geben, die Kernkompetenzen eines großen Konzerns zu übernehmen. Das schafft er nicht.

Neben der Beratungskultur gibt es noch den Boom an Corporate-Inkubatoren. Wie stehen Sie hierzu?

Gunter Dueck: Bei IBM hatten wir vor Jahren schon ähnliche Ansätze. Forschungszentren aufzubauen, klingt zunächst nach einer guten Idee. Werden diese aufgebaut, muss das aber lebenslang und mit viel Energie durchgeführt werden. Dieses Vorgehen muss daher tief in der Strategie der Firma implementiert werden. Mich beschleicht bei einigen Firmen das Gefühl, dass sie neue, strategisch relevante Themen nicht mit ihrem bestmöglichen Können anstoßen, sondern ein paar junge Leute einkaufen und dann mal schauen, was passiert. Vielleicht lässt sich das ja irgendwie skalieren. Vom Zuschauen allein lernt man aber nichts. Viele große Konzerne sind damit glücklich, Firmen zu kaufen, um zu lernen, wie die jungen Leute ticken und wie ein Startup arbeitet. Das halte ich für eine falsche Richtung. Die Startups werden dann in irgendwelche Prozesse eingegliedert und das verträgt sich schwer – Agilität versus Verwaltungstheater. Statt zu kaufen, sollten Unternehmen selbst etwas aufbauen.

„Auch die Amazons dieser Welt könnten in 20 Jahren vielleicht aussterben“

Sie haben vorhin die Amazon-Welt angesprochen. Was macht diese Welt aus?

Gunter Dueck: Amazon macht uns ungeduldig. Das ist es, was uns mehr und mehr in die Digitalisierung hineintreibt. Sie liefern am nächsten Tag und verwöhnen uns rundherum. Wenn jetzt jemand sagt, etwas dauert sieben Wochen, fangen wir an, uns über die Unprofessionalität zu wundern – ob der Zeitraum nun gerechtfertigt ist oder nicht. Warum dauert die Bearbeitung einer Einkommensteuererklärung beispielsweise mehrere Wochen? In Finanz- und Krankenkassenprozessen schlummern ungeheure Effizienzressourcen. Hier setzt sich zunehmend der Zorn der Amazon-Kunden durch. Ist man ein Internetjünger und daran gewöhnt, dass alles sofort da ist, sind die besagten Prozesse nicht nachvollziehbar. Die jüngere Generation schüttelt sich jetzt langsam und wird grimmig böse. In diesem Kontext können wir erkennen, dass Deutschland noch nicht so richtig digitalisiert ist.

Bei den Amazons dieser Welt ist der große Vorteil, dass die von Anfang an komplett digital gedacht sind. Können andere Unternehmen hier überhaupt mithalten?

Gunter Dueck: Auch die Amazons dieser Welt könnten vielleicht in 20 Jahren aussterben. Ich lehne mich jetzt zwar weit aus dem Fenster, aber auch die müssten sich mal erneuern. Die Amazon-Webseite ist nach 20 Jahren immer noch dieselbe. Wenn ich aber Lebensmittel statt Bücher kaufen soll, hätte ich gerne auch Icons wie Margarine oder Brot und ein anderes Layout. Wir verfügen über zu wenig Vorstellungsvermögen, um zu sehen, wie das System aussehen müsste. Möglicherweise kommt aber schon bald ein neues Unternehmen, das das besser kann. Erfolg kommt nicht nur vom digitalen Denken, sondern davon, sich zu fragen: Wie sieht der ideale Prozess aus Kundensicht aus? Der möchte vielleicht gar nicht mehr klicken. Dieses Verständnis, die Radikalität, das fehlt mir bei vielen Unternehmen.

Sind viele Unternehmen selbst schuld, weil sie nicht mutig genug sind, einfach mal alles neu zu machen?

Gunter Dueck: Es lässt sich leicht sagen: „Die sollen das mal neu machen.“ Die Gegebenheiten des Unternehmens müssen der Fairness halber mit in die Betrachtung einbezogen werden. Oft hängen an den alten Strukturen ja auch alte Kunden. Finanzinstitute stehen aktuell vor dem Problem der – wie ich es gerne nenne – Neodigitalisierung. Die arbeiten mit alten Legacy-Anwendungen aus den 70er- und 80er-Jahren, die sündhaft viel Geld gekostet haben. Im Innern ist sozusagen das alte Core-Banking-System, das von außen geflickt wurde. Es wurden ganze Schalen darübergebaut, bis hin zu Internetportalen mit Direktbanken. Das ist so, als nehme man ein Zelt als Fundament, baue noch ein Einfamilienhaus darüber und innen dann ein Penthouse. Irgendwann muss ein Punkt gesetzt werden, an dem man ganz neu anfängt. Aber das ist fast nicht zu leisten. Die Wirtschaft erfordert es, dass alles, was wir tun, rückwärtskompatibel sein muss. Das Neue machen dann auch die neuen Firmen wie Facebook oder Google. Newcomer, die scheinbar die Weltherrschaft für sich beanspruchen. Aber auch sie werden das Problem nach 20 Jahren bekommen.

Es gibt viele Beispiele guter Unternehmen, die länger als 20 Jahre am Markt bleiben. Viele verbindet eine starke Vision. Wie findet man diese als Unternehmer oder Geschäftsführer?

Gunter Dueck: Das ist schwierig und das können nicht viele. Grund dafür ist, dass in Management Meetings dauernd auf Zahlen herumgehackt wird. Zu einer Vision gehört es, ein echtes Ziel zu haben. Das Ziel kann dabei nicht nur sein, plus zehn Prozent von etwas zu erarbeiten. Es muss ein inhaltliches Bild vorhanden sein und eine Vorstellung davon geben, wie man dort hinkommen kann. Mit der Globalisierung und Digitalisierung befinden wir uns in einer
Art Zeitbruch. Statt als Führungspersonal administrative Arbeit zu leisten, sollte die Energie dafür genutzt werden, neue Inhalte festzulegen und diese dann auch umzusetzen. Das trifft auf Wirtschaft und Politik gleichermaßen zu. Wenn ein Handelsunternehmen sagt, es wolle ins Internet und Amazon Paroli bieten, dann braucht es keine Meeting-Demokratie, sondern Vertrauen und starke Persönlichkeiten. Das ist ein schönes Wort, Meeting-Demokratie. Hier sehen wir auch ein Problem in der Politik. Ein anderes Beispiel: Ich war erst vor Kurzem bei den Piraten zu Besuch. Es sieht dort nach wie vor ein bisschen chaotisch aus und man sitzt zusammen vorm WLAN. Im Grunde aber fehlt ihnen eine klare Aussage, was sie machen wollen. Sie diskutieren als Basisdemokratie und es scheint, als könne man in einer Basisdemokratie offensichtlich nicht zu einer klaren Vision kommen. Das ist nicht nur ein Piratenproblem. Vision klingt leider so verwaschen. Es sollte ein konkretes Bild von dem geben, was erreicht werden soll. Anschließend muss man identifizieren, was es dazu braucht. Zu einer Vision gehört es, gewisse Dinge festzulegen und diese anschließend nicht mehr zu diskutieren. Die Basisdemokratie hingegen diskutiert unendlich lange. Wir brauchen stattdessen ein End of Debate und müssen den Anker lichten. Und wenn das Schiff dann in die unbekannte Welt fährt, wird auch nicht mehr diskutiert. Dann fahren wir weder zurück noch plötzlich irgendwo anders hin. Das geht dann nicht mehr. Entscheidungsfindung muss von Durchführungen und Abarbeiten getrennt werden. Entscheidungen finden im Kopf statt – oder besser noch: im Herzen.

Das Gespräch führte Jan Thomas.

Gunter Dueck ist Schriftsteller, Philosoph, Business Angel und Speaker. Nach einer Professoren-Karriere arbeitete er fast 25 Jahre bei IBM. Er ist für satirisch-unverblümte Bücher bekannt (zum Beispiel „Schwarmdumm“). Seit 2017 schreibt er die FAZ-Kolumne „Dueck dagegen…“.