Startup Leadership

Von der einsamen Nuss zum Wachstumsschmerz

01/11/2016
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„Leadership is over-glorified.“ So interpretiert Derek Sivers ein Phänomen in dem YouTube-Video „Leadership lessons from dancing guy“. In diesem Video löst ein einsamer Festivaltänzer in zwei Minuten einen Massen-Tanzrausch aus. Es gelingt ihm, nur einen weiteren Tänzer anzulocken und ihn zu seinesgleichen zu machen. Das Eis bricht und die Massen strömen herbei. Auf der Festivalwiese scheint es weniger auf den Anführer anzukommen, als auf die Leute, die ihm früh folgten. Die frühen Anhänger erst machen eine Bewegung sichtbar, sie machen aus einer einsamen Figur einen Anführer und geben ihm etwas zum Führen. Ohne sie bleibt der Erste nicht mehr als eine „lone nut“ mit einer schrägen Idee. Fazit und die Empfehlung lauten entsprechend: „Be easy to follow!“

„Over-glorified Leadership“ und „Be easy to follow“ – Oha! Ergibt das Sinn für ein deutsches Startup? Lässt sich ein solcher Festivalrausch mit dem Aufbau eines Unternehmens vergleichen? Ist ein Berliner Gründer eine „lone nut“, so lange keiner mittanzt? Um eine Antwort zu finden, versetze ich mich in drei Phasen, die unser Startup seit 2013 durchlaufen hat.

Phase Eins: The Lone Nut

Die ersten Wochen sind magisch. In jeder Stunde entsteht etwas Neues, das es vorher noch nicht gab: eine Vision, ein Logo, ein Firmenname, ein App-Design und und und. Es ist die produktivste Zeit des Lebens, weil man im Gründerteam komplett allein ist und alles selbst machen muss. Nicht, dass man es am besten könnte, es ist nur kein anderer da. Als Gründer ist man Leader und Umsetzer gleichzeitig. Und da die Kommunikationswege im eigenen Kopf meistens kurz sind, schafft man viel und es gibt wenige Konflikte.

Der eigenen Idee zu folgen, benötigt nicht viel innere Überredungskunst.

Ich finde diese Phase enorm wichtig, um eins zu begreifen: Es fühlt sich verdammt gut an, so geführt zu werden. Es macht Spaß, mit sich selbst als Teammitglied zu arbeiten. Die Ziele sind kristallklar, das Vertrauen tief und alle ziehen an einem Strang.

Phase Zwei: Modern Family

Wer in der ersten Phase dieses Glücksgefühl empfindet, redet oft und viel darüber. Und das empfundene Glück ist ansteckend, da es authentisch und voller Überzeugung ist. Es folgt die Phase, in der man Mitgründer und die ersten Mitarbeiter findet. Die meisten Gründerteams verfügen in dieser Phase noch nicht über viel Geld und können keine hohen Gehälter bezahlen. Man muss etwas anderes bieten, damit sich Spitzenleute anschließen, und zwar einen Teil des Glücks. Wer es schafft, in den frühen Mitarbeitern eine ähnliche Erfüllung auszulösen, die man zuvor allein hatte, hat schnell eine begeisterte kleine Familie um sich. Der Vergleich mit einer Familie passt gut, da es die persönlichste Phase in der Geschichte eines Unternehmens ist: Man verbringt viele Abende gemeinsam, erfährt Privates, lädt sich nach Hause ein, Freundschaften entstehen, das ein oder andere Drama bleibt nicht aus.

Im Endeffekt entsteht dadurch etwas Ähnliches wie in der ersten Phase: Durch die hohe soziale Aktivität wird viel kommuniziert, die Transparenz über aktuelle Prioritäten ist hoch, ebenso das Vertrauen. Die ersten Anhänger sitzen im selben kleinen Boot. Es fällt ihnen leicht mitzurudern und deswegen tun sie es gern und mit viel Kraft.

Phase Drei: Wachsende Organisation

Eine Weile geht das gut. Doch irgendwann schwindet der Familiengeist. Wie bei den Beutlins oder Corleones wird die Familie irgendwann sehr groß. Man kann nicht mehr mit jedem regelmäßig zum Lunch, nicht auf jeder Party gemeinsam tanzen, nicht jede Idee mit allen intensiv diskutieren. Das Team wächst und simultan sinken Informationstransparenz, Klarheit und  Vertrauen. „Growing pain“ nannte meine Mitgründerin Amber Riedl es neulich, als uns die Namen neuer Kollegen nicht gleich einfielen. Wachstum verursacht auch Schmerzen.

Und es passiert nicht nur den Gründern: Die frühen Mitstreiter vermissen den Teamgeist der ersten Monate, die neueren erleben ihn vielleicht nur noch innerhalb der eigenen Abteilung.

Nun gibt es fürs Oberhaupt verschiedene Optionen. Abhauen zu den Elben (Beutlin) oder Liquidierung (Corleone) stehen nicht jedem zur Verfügung. Doch wer es schafft, nicht im operativen Tagesgeschäft zu versinken und sich Zeit für die Organisation zu nehmen, führt meist Systeme wie Objectives and Key Results (OKR), SMART, RASCI oder Ähnliches ein. Und wer es ernst nimmt, schafft damit auch wieder ein solides Maß an Klarheit und zielgerichteter Umsetzung. Hier scheint Startup Leadership nun erst richtig zu beginnen.

Energie erhalten mit Startup Leadership

Wird Startup Leadership also wirklich zu stark emporgehoben, oder muss ich im reiferen Startup nicht besonders stark führen und mich nach vorn stellen? Spielt es eine Rolle, ob Gründer Gefolgschaft anziehen, oder ist das höchstens etwas für die Frühphase, in der wir uns sowieso alle lieb haben?

Erinnern wir uns an die erste Phase. Am meisten Energie gab mir, dass mir vollkommen klar war, was ich tun musste. Und mehr noch, dass ich es dann völlig selbstständig umsetzen konnte. Das wirkte anziehend und ansteckend auf die frühen Gefährten und sobald sie dasselbe spürten, gaben sie alles. Wäre es nicht phantastisch, wenn das auch in einem größeren Team passiert?

Wenn sich jeder ähnlich fühlt wie ich damals, kann die Frühphasenenergie auch in einem größeren Team erhalten bleiben. Das ist mein Ziel und mein Verständnis von Leadership. Konkret bedeutet das:

  1. Macht allen klar, wie Erfolg aussieht. Hier helfen Methoden wir OKR nach meiner Erfahrung tatsächlich.
  2. Geht aus dem Weg. Lasst das Team losrennen, beseitigt Hindernisse, zeigt Anerkennung, lasst sie ihr volles Potenzial entfalten und achtet nur darauf, dass allen das Ziel klar bleibt. Das klingt einfacher, als es ist.
  3. Nehmt Euch selbst zurück, minimiert Euer Ego, maximiert Vertrauen.

Wird Leadership also zu stark glorifiziert? Wie der Dancing Guy, möchte ich mich davon nicht stören lassen. Denn je weniger Leadership glorifiziert wird, desto besser gelingt sie. Und desto leichter ist es für hervorragende Mitstreiter, nicht nur zu folgen, sondern mit voller Energie das Beste zu geben.