Ranga Yogeshwar:

„Bildung ist mehr als ein bunter Bildschirm“

31/10/2018
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Herr Yogeshwar, welche Chancen bietet die Digitalisierung Ihrer Meinung nach für das Thema Bildung?

Ranga Yogeshwar: In der digitalen Welt organisiert sich die Verteilung von Wissen neu. Wir leben in einer Zeit, in der junge Menschen digital an nahezu dieselben Informationen kommen, egal ob sie gerade in Berlin oder Bombay sitzen. Das hat einen immensen Einfluss auf Bildung im globalen Sinne.

Welche Konsequenzen hat das genau?

Yogeshwar: Bildung ist vielleicht das einzige Gut, von dem sicher alle profitieren, je mehr es davon gibt. Ganz im Gegensatz zu anderen Ressourcen, da profitieren nur einige wenige von einer ungleichen Verteilung. Ein anderer Aspekt ist, dass Bildung früher in einem sehr abgeschotteten Raum stattfand. Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit: Es gab in jedem Klassenzimmer nur einen einzigen Lehrer, der außer den Schülern keine wirklichen Referenzen hatte. Wir befinden uns jetzt in einer Phase, in der der Bildungsprozess transparenter wird. Auf einmal können Lehrer mit vielen anderen Lehrern, nämlich denen aus dem World Wide Web, verglichen werden. Das bietet die enorme Chance, den Bildungsprozess qualitativ zu verbessern. Geniale Lehrer, von denen früher nur wenige Schüler profitieren konnten, können heute global agieren.

Und das ist der Digitalisierung zu verdanken?

Yogeshwar: Das ist definitiv der Digitalisierung und der weltweiten Kommunikation zu verdanken. Ein konkretes Beispiel: Auf YouTube gibt es den Kanal 3Blue1Brown, der Mathematik vermittelt und inzwischen über eine Million Abonnenten hat. Das ist einfach toll! Man kann also mit etwas sehr Spezifischem global ganz viele Leute erreichen.

„Schüler in Berlin oder Bombay kommen online an dasselbe Wissen“

Ist das für Sie schon Edtech?

Yogeshwar: Edtech ist für mich ein Beispiel, wie mit der Zeit ein Öffnungsprozess stattfindet. Wir reden ja von Edtech speziell im Bereich von Universitäten. Deren Öffnung führte dazu, dass in kürzester Zeit mehr Studenten online eingeschrieben waren als in der gesamten Geschichte von MIT und Harvard.

Und wie verändert sich dadurch die Rolle des Lehrers?

Yogeshwar: Ich glaube, dass sich durch diese Technologien das breite Potenzial des Lehrers entfalten kann. Die Rolle des physischen Lehrers verändert sich, er hat jetzt mehr Zeit für die individuelle Betreuung und muss nicht mehr den harten Wissensvermittler im engeren Sinne spielen. Die Individualisierung des Lernprozesses wird in unserem Bildungssystem eigentlich als Katastrophe betrachtet, weil wir alle über einen Kamm scheren und den Gleichschritt verlangen. Das löst sich aber langsam auf. Wir sind also nicht mehr gezwungen, dienstags um zehn Uhr Englisch und um elf Uhr Mathematik zu lernen, was völlig anorganisch ist.

Und ist dieser Öffnungsprozess schon im deutschen Bildungssystem angekommen?

Yogeshwar: Das Bildungssystem in Deutschland stammt noch aus dem 19. Jahrhundert und stellt sich auch noch so dar. Wir lernen Konformität, wir lernen Anpassung und Gleichschritt. Hinzu kommt, dass in Deutschland die Bundesländer für das Bildungssystem zuständig sind. Es ist absurd, dass Schüler in Bremen Mathematik anders lernen als Schüler in München und dass Familien, die umziehen, dadurch ein riesiges Problem haben. Die Liste der Absurditäten geht weiter bis hin zur Tatsache, dass wir alleine im deutschen Bildungssystem einen Investitionsstau von über 30 Milliarden Euro haben, was Gebäude betrifft. Es sind bereits die ganz elementaren Dinge, die überhaupt nicht funktionieren.

Fan der Wissenschaft: Seit 25 Jahren moderiert Yogeshwar die Sendung Quarks. Foto: Klaus Görgen

Zuallererst müsste also an der Infrastruktur gearbeitet werden?

Yogeshwar: Man müsste nicht nur an der Infrastruktur arbeiten, sondern den gesamten Bildungsprozess in Deutschland anpacken – und das nicht nur für wenige Wochen vor der Wahl. Denn Bildung ist auch ökonomisch der Schlüssel zum Wachstum. Dabei geht es nicht darum, dass wir in Zukunft alle Kinder vor den Bildschirm setzen. Bildung ist mehr als ein bunter Bildschirm. Es geht um ein Unterstützen und Fördern und nicht um ein Aussieben. Das deutsche Bildungssystem ist immer noch ein Filtersystem. Das fängt schon in der Grundschule an, wenn es um die Frage nach der weiterführenden Schule geht. Es gibt kein anderes Land weltweit, das seine Schüler so früh in ihren Bildungskarrieren aufteilt. Dieses System ist extrem unfair, weil es sehr stark mit dem Sozialindex zusammenhängt – das Portemonnaie der Eltern entscheidet wesentlich über die Bildungskarriere des Kindes.

Besteht hier die Chance für Startups, neue Lernansätze zu bieten, ohne auf die Politik zu warten?

Yogeshwar: Wir haben alleine in Deutschland einen Markt für Nachhilfeunterricht von etwa zwei Milliarden Euro, das allein ist schon ein Ausdruck der Kapitulation eines Bildungssystems. Ich habe selbst vier inzwischen erwachsene Kinder. Alle Eltern wissen, dass im Grunde genommen nachmittags nach der Schule der zweite Unterricht stattfindet. Dann, wenn die Mütter und Väter mit den Kindern Französisch-Vokabeln pauken oder Matheaufgaben lösen. Wir erleben auch zunehmend, dass die Kinder vormittags in der Schule sitzen und sich dann zu Hause die Erklärungen aus dem Internet holen.

Um beim Beispiel des Nachhilfemarkts zu bleiben, sehen Sie es kritisch, dass Start-ups Bildung nicht nur demokratisieren, sondern auch privatisieren?

Yogeshwar: In ganz vielen Bereichen des Internets gibt es die, nennen wir sie mal kapitalistischen Kreuzritter, die durch die Lande reiten und überlegen, mit welchen Innovationen sie Geld machen können. Das ist die dominante Haltung im Silicon Valley. Aber Bildung hat auch mit einer Haltung des Teilens zu tun – share your knowledge! Hier begegnen einem Idealisten, die das machen, weil sie Spaß daran haben. So wie ein guter Lehrer, der sich aus Leidenschaft über den Unterricht hinaus engagiert. Wenn aber ein Industriezweig plötzlich meint, er könnte den Schul- und Bildungsraum kommerzialisieren, bin ich skeptisch. Schule sollte in meinem Verständnis ein Raum bleiben, der frei und unabhängig agiert. Man sollte ihn daher zu direkten wirtschaftlichen Interessen abgrenzen, denn durch Bildung sollte das kritische Denken, auch gegenüber der Wirtschaft, gefördert werden. Es geht also um weit mehr als um rein utilitaristisches Denken, denn hier wird der Grundstein für die Kultur unserer Gesellschaft gelegt. Bildung ist mehr als Know-how!

Und wie kommt dann die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen zustande?

Yogeshwar: Das ist keine Bereitschaft, das ist eine Notwendigkeit und das gilt global: Ich habe zum Beispiel einen Freund, der in meinem Alter angefangen hat, Gitarre zu lernen. Sein Lehrer sitzt irgendwo in den USA und der Unterricht findet über Skype statt. Das mag absurd erscheinen, aber es klappt richtig gut. Heute wird die Welt zur Schule. Ich nutze beim Erlernen von Computersprachen Unterrichtsblöcke aus den USA oder aus Indien. Auch die Zeitperspektive darf man nicht unterschätzen: Früher war Bildung zeitlich auf die Schulzeit beschränkt. Speziell in technischen Bereichen ist der Fortschritt jedoch so schnell, dass wir ein ganzes Leben lang dazulernen müssten. Und das bedeutet, dass wir sehr früh die Kompetenz erlernen müssen, auch in anderen Kontexten, außerhalb von Schule, zu lernen. Denn der 40-jährige Arbeitnehmer wird wahrscheinlich nicht mehr die Schulbank drücken, wenn er neue technologische Entwicklungen verstehen und vorantreiben möchte. Doch mit den Innovationen des lebenslangen Lernens wird ihm das gelingen.

RANGA YOGESHWAR

Foto: H.G. Esch

Yogeshwar wurde 1959 in Luxemburg als Sohn eines indischen Ingenieurs und einer luxemburgischen Künstlerin geboren. Der studierte Physiker gehört zu den bekanntesten Wissenschaftsjournalisten im deutschsprachigen Raum.

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