Investor Christian Nagel im Interview

17/11/2014
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Warum Christian Nagel nichts von einem Neuen Markt 2.0 hält

Christian, derzeit wird der Ruf nach der Wiederbelebung des Neuen Marktes laut. Auch Sigmar Gabriel denkt nun öffentlich darüber nach. Wie stehst Du dazu?

CHRISTIAN NAGEL: Wir selbst haben seit dem Platzen der Blase [gemeint ist die im März 2000 geplatzte Dotcom-Blase; Anm. der Red.] insgesamt sechs IPOs gemacht. Die Zeit davor war leider weniger schön, denn man kann einfach nicht mit dem guten Gefühl zurückblicken, dass dabei etwas Nachhaltiges herausgekommen ist. Von den 330 Unternehmen, die in der Neuen-Markt-Phase an den Markt gegangen sind, ist außer 1&1/United Internet kein einziger bekannter Name mehr dabei. Im Gegensatz dazu ist in den USA aus jeder dieser Blasen ein großes Unternehmen hervorgegangen. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass unter allen Beteiligten nur Dilettanten am Werk waren. Deswegen stehe ich der Idee einer Revitalisierung des Neuen Marktes negativ gegenüber, insbesondere wenn die Hürden abgesenkt werden sollen, was zwangsläufig zum gleichen Ergebnis wie damals führen wird. Dann kommt wieder der ganze Schrott an den Markt. Die Tatsache, dass wir in Deutschland keine IPOs haben, liegt einfach daran, dass wir keine ausreichend guten Unternehmen haben. Zudem zeigt die Statistik, dass Unternehmen in den USA deutlich länger bis zum Börsengang brauchen und viel mehr Geld benötigen. Die Unternehmen sind dann reifer, haben vorher gemeinsam mit den Investoren Strukturen aufgebaut und wurden für den Markt vorbereitet.

Wenn Sigmar Gabriel nun gerade an den Mittelstand appelliert, mehr in Startups zu investieren: Wie könnten Corporates vorgehen?

CHRISTIAN NAGEL: Zunächst einmal könnte man in bestehende Fonds investieren. In unserem aktuellen Fonds befinden sich einige strategische Investoren, denen es weniger um das Finanzinvestment geht als um den direkten Draht zur Innovationsfront – ein veritables Interesse, denn die Welt dreht sich heutzutage so schnell, dass diese Unternehmen nicht hinterherkommen. Einige wie Commerzbank, Rewe und Vorwerk betreiben einen Corporate-Venture-Arm. Das ist prinzipiell begrüßenswert, da somit Geld in den Markt kommt. Viele Corporates wollen einfach wissen, was passiert und was diese Veränderungen für das eigene Geschäft bedeuten. Man hat ja den Eindruck, dass da ein ganzer Tsunami an Innovationen auf die alteingesessenen Branchen hereinbrechen wird. Das zeigt sich beispielsweise in der Automobilindustrie an Uber, Tesla, der Sharing Economy und Self-driving Cars.

[bctt tweet=”„Das nächste Dickschiff wird die Versicherungsbranche sein.“ Christian Nagel, Mitgründer Earlybird”]

Wie siehst Du den Ruf nach mehr Geld für die Startup-Szene? Gibt es tatsächlich zu wenig Venturecapital oder eher zu wenig gute Unternehmen?

CHRISTIAN NAGEL: Wir befinden uns in einem Wettrennen der Ökosysteme. Innovationen entstehen weltweit fast zeitgleich. Wenn wir also hier ein Team finden, bei dem wir das Gefühl haben, dass es besser ist als die Teams irgendwo anders, dann muss das zu einer sehr frühen Phase sein. Das Unternehmen muss noch dabei sein, das eigene Produkt zu optimieren und die KPIs [Key Perfomance Indicator; Anm. der Red.] in Gang zu bringen. Und dann muss das Team sehr schnell agieren, um sich global durchzusetzen. Dafür benötigt es sehr viel Geld – und das fehlt hierzulande tatsächlich. Mytaxi ist das beste Beispiel dafür: zuerst am Start, große Markenbekanntheit in Deutschland, viel bekannter als Uber – abgesehen von der vielen kostenlosen Presse, die Uber zurzeit bekommt. Trotz dieser Faktoren werden sie für einen Appel und ein Ei von Daimler gekauft. Wie kommt das? Wenn du in den USA so ein Unternehmen startest und es in ein paar Städten funktioniert, bekommst du genügend Kapital, das dir sagt: ‚Jetzt erobern wir die Welt damit!‘ Für deutsche Themen kriegst du sowas nicht hin, nur für globale Themen mit globalen Kunden, und so scheitert es nicht zuletzt auch oft an der Qualität der Unternehmerteams und an der Einstellung. Wenn jemand zu uns kommt und nur von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Holland spricht, dann gehen bei uns meistens schon die Rollläden runter. Das bringt einfach nichts.

Als VC steht Ihr ja selbst unter Erfolgsdruck. Auch Ihr habt Zielvorgaben, die es zu erreichen gilt …

CHRISTIAN NAGEL: Es wird manchmal als arrogant angesehen, wenn wir sagen, dass wir 500-Millionen-Exits produzieren müssen, damit die Fonds-Mechanik funktioniert. Wenn du bei einem 150-Millionen-Fonds nicht mindestens zwei 500-Millionen-Exits hast, erwirtschaftest du einfach keine Returns. Daher muss jedes einzelne Unternehmen das Potenzial haben, diesen Exit zu erlösen – wissend, dass dies nur ein kleiner Prozentsatz schafft. Da bleibt keine Zeit, die Teams davon zu überzeugen, dass die Globalisierungsstrategie richtig ist.

Das bedeutet also, dass die derzeitige Größenordnung an Exits in Berlin für Euch eigentlich uninteressant ist – von Zalando mal abgesehen?

CHRISTIAN NAGEL: Vollkommen richtig. Aber wir sind sehr positiv eingestellt. In Berlin werden wir einige Exits über 500 Millionen Euro sehen, und der Zalando-IPO ist natürlich super für das Ökosystem. Jetzt ist die Frage, was mit Soundcloud, Researchgate und Wunderlist passiert, die alle dieses Potenzial hätten und allesamt über Teams verfügen, die das wollen. Sollte dies gelingen, ist die letzte Lücke geschlossen. Dann wird sich ein Glaube an das Ökosystem manifestieren.

Rocket Internet CEO Alexander Kudlich sagte neulich, dass Whatsapp – wäre es ein deutsches Unternehmen – wahrscheinlich für 40 Millionen Euro verkauft worden wäre. Kann man an dieser Aussage die Charakteristik deutscher Investoren ablesen?

CHRISTIAN NAGEL: Da ist was dran. Das hängt aber auch mit dem Team zusammen. Wenn das Team klein denkt und nur die kleinen Auslandsmärkte mitnimmt, statt den Markt zuzumachen und auch in den USA präsent zu sein, stellt sich die Frage: Will das Team wirklich was ganz Großes bauen? Oder wollen die nur einen 50-Millionen-Exit?

Wie kommt es, dass Bewertungen hierzulande in einer anderen Liga spielen als in den USA?

CHRISTIAN NAGEL: Es geht ja immer um Nutzerzahlen und um Wachstum. Zalando beispielsweise, da gibt es Metriken, die man mit Amazon vergleichen kann. Das ist ein guter Case – wobei der ZDF-Beitrag [„Frontal 21 – Die große Samwer-Show: Die Milliardengeschäfte der Zalando-Boys“; Anm. der Red.] ein Albtraum war und man sich fragen muss, warum man für so einen Schrott überhaupt Gebühren zahlen soll –, ansonsten aber alles perfekt: hohe Markenbekanntheit, Superjob, hierzulande profitabel, die Story stimmt und sie brauchen Geld zum Wachsen. Das ist bei diesen Modellen inhärent. Auch Amazon wurde jahrelang von den Analysten aufs Heftigste runtergeschrieben und heute ist es der größte E-Commerce-Händler der Welt.

Wie ist das bei Rocket Internet?

CHRISTIAN NAGEL: Solche Modelle haben an der Börse noch nie funktioniert, deshalb ist Rocket Internet auch ein spezieller Fall. Man kann nur spekulieren, warum sie gerade jetzt an die Börse gehen. Möglicherweise wollen einige der Investoren aussteigen und man wollte sich handelbare Liquidität sichern. Man muss halt sicher sein, dass es mindestens ein Jahr lang funktioniert und ein Bedarf am Markt besteht. Alles andere wäre nicht nachvollziehbar, denn sie sind eigentlich Fundraising-Weltmeister und würden auch sonst an Geld kommen. Zeitgleich ist bei Rocket Internet mit hohen Ausfallraten zu rechnen, weil wahrscheinlich nur zehn der fünfzig Firmen gut laufen. Dadurch wirst du viel mehr Negativmeldungen als Positivmeldungen haben, was eigentlich völlig normal ist, dir aber irgendwann um die Ohren fliegt.

Kannst Du kurz Eure Arbeitsweise schildern?

CHRISTIAN NAGEL: Wir kriegen pro Jahr circa 3000 bis 3500 Konzepte aus allen möglichen Themengebieten auf den Tisch und investieren pro Fonds in rund 20 Unternehmen. Wenn uns Konzepte erreichen, gibt es bestimmte Ausschlusskriterien: Markt zu klein, zu viele Wettbewerber, E-Commerce-Nischen, geografisch nicht passend oder kein vollständiges Team. Wir dampfen das relativ schnell runter auf 500 Konzepte, mit denen wir uns dann detaillierter beschäftigen, und dann kommen die Fragen nach den Alleinstellungsmerkmalen, dem Innovationsgrad und dem Kundennutzen. Verändert das Unternehmen etwas? Erreicht man die Ziele, bevor die Wettbewerber auf den Plan gekommen sind? Gibt es schon aktive Nutzer? Zusätzlich gibt es natürlich einige Trends, die bei uns im Fokus stehen und nach denen wir aktiv schauen. Aktuell sind das beispielsweise Internet of Things oder Fintech. Die Bankenbranche ist unverändert und mit unsagbar schlechter User Experience. Jeder Kunde ist genervt. Somit ist es überfällig, dass dort etwas passiert. Und das nächste Dickschiff wird die Versicherungsbranche sein. Natürlich haben wir auch die anderen Cluster, insbesondere die USA, immer im Blick. Wenn in den USA bereits ein großes Unternehmen unterwegs ist, bleibt eigentlich nur die Option, dich an den Spieler zu verkaufen. Diese Kaufpreise liegen dann meist zwischen 50 und 150 Millionen Euro, was für uns keine Kalkulationsgrundlage sein kann. Wenn solche Exit-Szenarien drohen, halten wir uns in der Regel raus.

Kommen wir auf Berlin zu sprechen: Misst die Stadt der Startup-Szene ausreichende Bedeutung bei? Man hat das Gefühl, Wowereit hat die Startup-Szene erst durch die McKinsey-Studie „Berlin gründet“ von 2013 so richtig entdeckt. Was sollte man von seinem Nachfolger Michael Müller erwarten?

CHRISTIAN NAGEL: Grundsätzlich hat Berlin gar keine andere Chance als die Digitalwirtschaft. Es wird sich ja kein Tesla ansiedeln und eine Riesenfabrik bauen, auch die Dienstleistungsindustrie wird nicht herkommen. Du kannst also nur auf die Digitalwirtschaft setzen und versuchen, möglichst viel hier anzusiedeln. Das Schöne ist: Man kann den Trend ja sehen und muss nur helfen, ihn zu verstärken. Dazu braucht es ausreichenden Support, der nach wie vor ein Trauerspiel ist. London hat längst gemerkt, dass Berlin besonders beliebt ist bei den Gründern und London langsam den Rang abläuft. Und was macht London? Die geben tierisch Gas. Londons Bürgermeister Boris Johnson hat sich auf die Fahne geschrieben, dass die Stadt der weltweit führende Fintech-Hub wird. Gut für Berlin: Die Investoren kommen bereits nach Berlin und mit ihnen das Geld. Jetzt muss man nur dafür sorgen, dass jeder, der ein Startup gründen möchte, nach Berlin zieht, und auch die Googles und Facebooks anlocken. Die Message muss sein: ‚Wenn ihr einen Europa-Standort macht, dann in Berlin, weil es hier die besten Voraussetzungen und die innovativsten Startups gibt.‘ Die dürfen nicht aus Steuergründen nach Irland gehen. Die sollen nach Berlin, weil sich hier das Talent ansiedelt. Deshalb muss man sich als Stadt dieses Ökosystem ganzheitlich auf die Fahne schreiben und sagen: ‚Das ist die Zukunft von Berlin.‘

Aber erlaubt das die deutsche Länderstruktur überhaupt?

CHRISTIAN NAGEL: Natürlich nicht, das ist ja das alte Problem. Deswegen muss Berlin als Stadt aktiv werden. Auch Angela Merkel müsste eingreifen, denn genau dieser föderale Ansatz ist das Kernproblem. Wenn Bayern auch ein bisschen vom Kuchen abhaben will, geht es schief. Bayern soll lieber einen anderen Kuchen bekommen.

Siehst Du die Gefahr, dass sich das Zeitfenster von Berlin irgendwann zu Gunsten anderer Zeitfenster schließt?

CHRISTIAN NAGEL: Da ist was dran. Alle anderen geben ja auch Gas und versuchen, auf sich aufmerksam zu machen – siehe London, wo bereits alle Big Brands und Investment-Banken sind, und trotzdem machen die das. Andererseits ist die DNA von Berlin schon relativ gut. Berlin zehrt gerade enorm von seinem Coolness-Faktor. Wenn die Leute ‚Deutschland‘ sagen, meinen sie eigentlich Berlin, aber das kann natürlich abbrechen. Grundsätzlich bin ich optimistisch. In Berlin fühlt sich jeder wohl, weil es relativ unstrukturiert ist, das ist schon einmalig. Ein Chef eines großen französischen Unternehmens sagte neulich zu mir im Scherz: ‚Das Einzige, was Berlin fehlt, ist die Bourgeoisie.‘

Das Gespräch führte Jan Thomas. [td_block_text_with_title custom_title=”Christian Nagel”]ist Mitgründer und Partner von Earlybird. Er gehört derzeit den Aufsichtsräten verschiedener Berliner Startups an, darunter Auctionata, Number26, Smava und Versus. Zuvor war der Wirtschaftsingenieur und promovierte Betriebswirt Berater
bei McKinsey.