In-vitro-Fleisch:

Kunst des Karnismus

18/06/2018
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Ein Steak aus der Petrischale? Kein Blutvergießen mehr für den Fleischgenuss? Und 3D-Drucker in der heimischen Küche, mit denen wir unser Steak drucken? Bereits 1927 beschrieb der indisch-britische Biologe John B. S. Haldane diese Möglichkeit einer „schönen neuen Welt“. Und auch Winston Churchill forderte schon 1932: „Wir werden von dem Aberwitz abkommen, ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen, und diese stattdessen in einem geeigneten Medium züchten.“ Damals noch reine Fiktion, finden wir im Jahr 2018 einen Trend, der diese Fiktion zur Realität werden lässt: In-vitro-Fleisch.

In-vitro-Fleisch oder zwischen Fleischlust und -frust

Fleischkonsum ist ein polarisierendes Thema. Pünktlich zur Grünen Woche im Januar sind wieder Zehntausende Umwelt- und Tierschützer zum Protest auf die Straße gegangen. Ein Punkt ihrer Agenda betrifft die artgerechte Tierhaltung. Ihr Motto: „Wir haben es satt“. Es ist der Diskurs der Lebensmittelindustrie. Gegenwärtig aber wird er nicht mehr nur von Tierschützern angefacht. Umweltschützer, Demografen und Ernährungswissenschaftler haben sich eingeschaltet. Kein Wunder: Bis 2050 soll die Weltbevölkerung auf 9,6 Milliarden Menschen anwachsen. Damit wird die Nachfrage nach Fleisch laut UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO gegenüber 2006 um 85 Prozent steigen. „Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in den Industrieländern stiege demnach zwischen 2006 und 2050 von 77 auf 95,7 Kilogramm Schlachtgewicht“, heißt es im Fleischatlas 2018. Bei einem Schlachtgewicht von zwei Kilo je Huhn wären das circa 10 Hähnchen pro Kopf und Jahr mehr als heute.

Tierische Produkte sind zudem jetzt schon für rund 60 Prozent der ernährungsbedingten Klimaemissionen verantwortlich. Das geht aus einer gerade erst veröffentlichten Greenpeace-Studie hervor. In der Öffentlichkeit wird die Fleischproduktion außerdem immer wieder mit Schlagworten wie Monokulturen, Emissionen oder Biodiversität in den Fokus gerückt. Eine Aufmerksamkeit, die durch medienwirksame Filme wie Leonardo DiCaprios Cowspiracy noch verstärkt wird. So erkennen wir bereits an der Spitze des Diskurses die Komplexität des Themas „Fleisch“.

Bei In-vitro-Fleisch (in vitro lat. für „im Glas“) handelt es sich um Fleisch aus dem Reagenzglas. Die Herstellung eines Stücks Fleisch erfolgt mithilfe einer Zellkultur. Hierbei kommt das sogenannte Tissue Eingineering (die Gewebezüchtung) zum Einsatz. (Photo: Nichon Glerum)

In-vitro-Fleisch: Auf dem Weg zu einem neuen System?

Das Problem ist bekannt. Warum also sehen wir gerade jetzt die In-vitro-Alternative? Die „Zeichen der Zeit“ zeigen sich neben dem In-vitro-Trend auch im Kontext anderer Märkte – allen voran dem der Vegetarier. Acht Millionen Vegetarier leben laut ProVeg Deutschland e. V. in Deutschland (Stand 2015). Laut Fleischatlas zählen sich zudem zwölf Prozent der Deutschen zu den sogenannten Flexitariern. Das sind Menschen, die ihren Fleischkonsum bewusst einschränken.

Woran liegt das? Tests wie der des Kochs Rach zeigen, dass der Mensch vielleicht gar kein „Fleischbewusstsein“ hat. 2014 ließ er in einer Bundeswehrkantine unter dem Vorwand eines SaucenTests vegane Würstchen verkosten. Keiner der Testesser bemerkte, dass er kein Fleisch auf dem Teller hatte. Trotz Vegetarier und Flexitarier ist der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch kaum gesunken. Das lässt laut Fleischatlas auf einen Anstieg des Fleischkonsums schließen. „Letztendlich ist Essen ein ‚Gewohnheitsverhalten‘ und gelernte Verhaltensweisen ändern sich in der Regel nur langsam. Tatsächlich reduziert sich der Schweinefleischkonsum in Deutschland mittlerweile spürbar – war aber auch auf einem sehr hohen Niveau.

Einer britischen Studie zufolge isst ein Drittel aller Vegetarier Fleisch, wenn sie betrunken sind.

Der Verzehr von Geflügelfleisch steigt dagegen weiter an“, weiß Peter Wesjohann, Vorstandsvorsitzender der PHW-Gruppe. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in Zahlen des Weltagrarberichts 2015 wider. Auf ihrer Webseite heißt es: „In den vergangenen 50 Jahren hat sich die globale Fleischproduktion von 78 auf 308 Millionen Tonnen pro Jahr gut vervierfacht.“ Dieser Trend soll anhalten. Daher stellt sich die Frage, ob die steigende Nachfrage überhaupt von den Ressourcen der Welt getragen werden kann. Es scheint, dass der wachsende Konsum mit den Ansprüchen nach mehr Nachhaltigkeit kollidiert. „Ich kann Ihnen versichern: Die deutschen Lebensmittelhersteller sind sich ihrer Verantwortung bewusst, Nachhaltigkeit ist in vielen Unternehmen bereits gelebte Praxis. Sie stellen sich der Herausforderung, die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung auf eine Weise zu sichern, die für die Umwelt und die Menschen tragfähig ist“, so Dr. Wolfgang Ingold, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, in einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2015. Ist in vitro auch die Konsequenz eines nachhaltigeren Wirtschaftens? Die Zahl der In-vitro-Sympathisanten scheint zumindest zu wachsen.

Der Weg zum „sauberen Fleisch“ – eine neue Ära des Fleischkonsums?

„Gut zubereitet und gewürzt schmeckt ein In-Vitro-Burger nicht wirklich anders als ein traditioneller“, verrät Hanni Rützler, Ernährungsexpertin und Trendforscherin. 2013 verkostete sie den ersten Burger ausIn-vitro-Fleisch. Damals kostete der exklusive Bratling aus den Stammzellen einer Londoner Kuh noch rund 325.000 Dollar. Auf den Teller gebracht wurde er von Mark Post, Professor der Physiologie an der Universität Maastricht. „Das ursprüngliche In-vitro-Projekt wurde in den Niederlanden vom mittlerweile verstorbenen Willem van Eelen initiiert. Als ich mich ihm anschloss, erkannte ich schnell die wissenschaftliche Durchführbarkeit und die enormen gesellschaftlichen Auswirkungen, die damit einhergehen: eine bessere Lebensmittelsicherheit, weniger Umweltschäden und Tierschutzfragen“, erinnert sich Post an seine Motivation.

Die Macher des Bistro In Vitro entwickelten mit weiteren Institutionen ein Kochbuch mit 45 fiktiven Rezepten. Bistro-invitro.com

Heute ist In-vitro-Fleisch ein angesagtes Thema und die Riege der In-vitro-Visionäre deutlich länger. Neben den Forscher und Chief Scientific Officer des Startups Mosa Meat reihen sich Startups wie Memphis Meats, Just, Finless Foods oder Supermeat. Sie alle sind Teil einer neuen „zellulären Landwirtschaft“. Ihre Produktionsstätte ist nicht mehr das Schlachthaus, sondern das Labor. Und der Trend nimmt Fahrt auf: Investoren und Größen der Industrie wie Tyson Foods, Bill Gates oder Wiesenhof sind längst auf den Zug aufgesprungen und treiben den Wandel hin zum „ethisch korrekten Fleischkonsum“ an. Ein Wandel, der sich im Preis des neuen Fleisches niederschlägt. 2016 schon sollte ein In-vitro-Burger nur noch 11,36 Dollar kosten, wie die 2017 von Inge Böhm, Arianna Ferrari und Silvia Woll veröffentlichte Broschüre „In-vitro-Fleisch – Eine technische Vision zur Lösung der Probleme der heutigen Fleischproduktion und des Fleischkonsums?“ belegt. Schon bald soll das Fleisch aus der Retorte günstiger sein als jenes, das uns heute aus den Kühlregalen der Supermärkte anlächelt. Das Versprechen: mehr Geld im Portemonnaie, 96 Prozent weniger Treibhausgase und ein um 45 Prozent gesunkener Energieverbrauch.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, wohin der Wandel weg von der traditionellen Fleischproduktion evolutionär führen könnte?

Ist es der Anfang vom Ende der Industrie, wie wir sie kennen? Inge Böhm, Arianna Ferrari und Silvia Woll zeigen sich diesbezüglich zurückhaltend. In ihrer Publikation heißt es, dass die Studienergebnisse aufgrund des noch fehlenden großen Produktionssystems variieren. Noch ließen sich keine allgemeingültigen Aussagen treffen. „Es lässt sich jedoch vermuten, dass die Herstellung von In-vitro-Fleisch zumindest im Vergleich zu Rindfleisch weniger Land und Wasser verbrauchen sowie eine geringere Emission von Treibhausgasen und Schadstoffen aufweisen könnte.“ Das Thema bleibt aber auch unter der Fahne „in vitro“ kontrovers. Für Ferrari gibt es dafür verschiedene Gründe: „Es tauchen sehr viele wichtige Fragen auf, zu denen es heute noch keine befriedigenden Antworten gibt. Wie werden Tiere leben, aus denen Zellen entnommen werden? Wie oft werden Muskelbiopsien für die Zellentnahme benötigt und was bedeutet das konkret für die Tiere? Außerdem kann man nicht von Clean Meat reden, ohne dabei auch von Fleisch zu reden.“ Sehen wir hier also eine Revolution oder eher eine Verlagerung der Probleme?

Das System Fleisch und seine Mythen – Zeit für den Paradigmenwechsel

Mit den Startups rund um In-vitro-Fleisch werden vielfältige gesellschaftliche Dimensionen angesprochen. Ob Politik, Soziologie, Technologie, Wirtschaft oder Umwelt  – es gibt kaum einen Bereich, den das Feld nicht berührt. Und jeder Bereich hat seine eigenen Ideologien. Müssen wir diese hinter uns lassen, um eine neue Ära einzuleiten? Vieles spricht dafür. Unter den Ideologien findet sich beispielsweise der Karnismus, demzufolge der Mensch ganz oben in der Nahrungskette steht. Oder aber der Wohlstandsgedanke, der mit Privilegien wie dem Sonntagsbraten einhergeht. Solche Ideologien bauen wiederum auf Mythen auf, die unsere Gesellschaft und somit auch unsere Esskultur bestimmen. Dazu gehören Annahmen, dass Fleisch wichtig für die Ernährung sei und ein essenzieller Lieferant für Nährstoffe. Oder dass Lebensmittel aus dem Labor zwangsläufig ungesünder seien. Derartige Mythen bilden Hürden für den Wandel. Hier liegt eine große Herausforderung für den Trend rum um In-vitro-Fleisch, der die bestehenden Denkmuster herausfordert.

Im Herzen ein Raubtier?

Es scheint für viele unvorstellbar, dass sich der Mensch künftig von künstlichem Fleisch ernähren könnte. 2014 führte das Pew Research Center in den Staaten eine Umfrage zu gezüchtetem Laborfleisch durch. 80 Prozent der 1.000 Befragten antworteten auf die Frage, ob sie Laborfleisch essen würden, mit Nein. Bei einer weiteren Umfrage unter 24.000 Europäern befürwortete weniger als ein Viertel der befragten Personen, dass man Fleisch aus Zellkulturen erschaffen solle.

Ein Blick auf das In-vitro-Hackbällchen von Memphis Meats macht Lust auf mehr. (Foto: Memphis Meats)

Bruce Friedrich vom Good Food Institute weist darauf hin, dass es bei der Fragestellung auf die richtigen Begriffe ankommt. So hat beispielsweise Professor Wim Verbeke 400 Personen befragt. Das Ergebnis: 43 Prozent der Befragten, „die über die Umweltvorteile informiert wurden“, würden künstliches Fleisch kaufen. 2016 stellte der amerikanische Philosoph Sam Harris auf Twitter die Frage: „Wenn kultiviertes Fleisch auf molekularer Ebene identisch wäre mit Rind, Schwein und so weiter, und es würde gleich schmecken, würdest du es essen?“. 83 Prozent der rund 14.000 Teilnehmer antworteten mit Ja. Die Ergebnisse variieren stark und lassen keine eindeutige Schlussfolgerung zu, ob in vitro als Fleisch-Alternative akzeptiert werden könnte. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wohin der Wandel weg von der traditionellen Fleischproduktion evolutionär führen könnte? Immerhin isst der Mensch bereits seit 2,5 Millionen Jahren Fleisch. Ab einem Fleischanteil von mehr als 20 Prozent in der Nahrung soll sich das Gehirn schneller entwickeln als bei Pflanzenfressern, heißt es in einer Studie von Professor Axel Janke vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. Mit dem Verzehr von Fleisch kam auch die Herstellung von Werkzeugen. Dafür haben wir unser Gehirn intensiver beansprucht. Das gilt auch für die Planung der Jagd. Nicht zuletzt die Rückbildung unseres Kiefers hat mehr Platz für das Gehirn geschaffen. Fleisch und die Entwicklung des Menschen sind also eng verbunden. Wohin wird sich der Markt entwickeln?

Veganismus oder vielleicht doch in-vitro-Fleisch? Beide Bewegungen stoßen derzeit noch stark auf Widerstand. Denn Millionen Jahre menschlicher Entwicklung und Gewohnheiten lassen sich kaum von heute auf morgen über Bord werfen. Auch wenn nicht klar ist, ob sich In-vitro-Fleisch ernsthaft durchsetzt, so sendet es dennoch ein wichtiges Signal. Es zwingt uns, unser bisheriges Denken infrage zu stellen, und zeigt Alternativen. Alternativen, die nötig sind, denn für unseren Planeten wird unser gegenwärtiger Konsum zunehmend zur Belastung. Aber wir wissen: Was einst visionär wirkte, kann am nächsten Tag Standard sein, denn Wandel gehört zum Menschsein und zu jedem Wandel gehört am Anfang Skepsis.

An diesem Artikel haben mitgearbeitet: Jens Konrad, Aileen Moeck

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