Die drei größten Digitalisierungsmythen in der Startup-Welt

22/04/2017
header image

Digitalisierung ist das Schlagwort der Stunde. Die Bedeutung ist vielen Organisationen – großen wie kleinen, alten wie neuen – immer noch ein Rätsel. Etablierte Unternehmen versuchen händeringend ihre alten Geschäftsmodelle mit dem Motto „Wir müssen da was machen“ ins digitale Zeitalter zu übersetzen. Das Ergebnis beschränkt sich meist auf Aktionismus: Einen Design-Thinking-Workshop, der nach zwei Wochen wieder vergessen ist, oder eine Berlin-Tour, bei der das Mittelmanagement in einer durchgestylten Loft-Etage Gründer-Äffchen beim Schwadronieren beobachtet. Im besten Fall wird ein Innovation Hub vom neuen Chief Digital Officer eingerichtet – und mit seiner Entlassung auch gleich wieder geschlossen.

Der Mythos Digitalisierung macht allerdings auch vor Startups nicht halt. Bei ihnen wirkt das gefährliche Halbwissen einer komplexen Materie sogar noch schwerer, da sie einerseits als Innovationstreiber gelten, andererseits allerdings nur eine begrenzte Lebensdauer haben, wenn die Ideen nicht gleich zünden.

Im folgenden möchte ich drei Digitalisierungsdenkfehler beschreiben, die ich bei vielen Frühphasen-Startups – meines eingeschlossen – beobachten konnte.

1. Das Experten-Bias oder warum Branchen-Insider keine Patentlösung sind

Gerade Gründer-Teams mit fehlendem oder schwachem Branchenwissen besetzen Schlüsselpositionen ihrer Unternehmen meist mit Personen aus der jeweiligen prädigitalen Branche. Sie zahlen hohe Gehälter und bieten blumige Titel, um sie aus der alten Industrie loszueisen. Share-Pakete werden als weiterer Anreiz in Aussicht gestellt. Das kann Investoren beeindrucken und eigenes Fachwissen sowie mangelnde Erfahrung aufwiegen. Die Gefahr dabei: Professionals aus jenen Branchen, die digitalisiert werden sollen, sind eben Teil des Problems. Sie halten an alten Ideen fest und sind nur schwer in die digitalen und modernen Arbeitsprozesse und Denkweisen des Startups zu integrieren. Wer Stift und Zettel gewöhnt ist, mag selbst von Slack und Google G Suite schnell überfordert sein. Im schlimmsten Fall sind Branchen-Insider damit mehr Belastung als Hilfe.

Ein intensives HR-Screening, welches das Teilen der Unternehmensvision zur Grundlage hat, ist unerlässlich und sollte nicht aus lauter Glück über die gefundene Branchen-Expertise vernachlässigt werden.

2. Das Entweder-oder-Bias oder warum Digitalisierung in kleinen Schritten zielführend ist

Ein Ferrari Spider schafft es von null auf 100 in drei Sekunden. Viele Gründer glauben, dass sie mit ihrem Startup auf der Überholspur sind. Doch wenn es um die Digitalisierung einer analogen Branche geht, so ist die Infrastruktur für Höchstgeschwindigkeiten meist nicht hinreichend ausgebaut. Junge Gründer-Teams neigen dazu, alle Prozesse einer analogen Branche auf einen Schlag digitalisieren zu wollen.

Dieser Weg lässt außer Acht, dass die Branche durch Jahre im gleichen Trott eine Trägheit entwickelt und Neuerungen skeptisch gegenüber steht. Das trifft gleichermaßen auf Kunden- wie Unternehmsseite zu. Besser ist es daher, analog oder semianalog zu starten und die Branche damit Schritt für Schritt an Neuerungen und digitale Features zu gewöhnen. Mit Machine Learning und Algorithmen sollten zunächst die Investoren zufrieden gestellt werden. Später der Markt.

3. Das Ressourcen-Bias oder warum drei Macbooks und eine 200-Mbit-Leitung für den Umbruch nicht ausreichen

Um im Sportwagen-Bild zu bleiben: Frühe Gründer-Teams gleichen eher einem Fiat Punto als einem Ferrari Spider: Es fährt sich langsam und unbequem. Die eigenen Möglichkeiten werden in der Early Stage oft stark überschätzt aber dafür im Business-Plan in epischer Länge in Stein gemeißelt. Timelines werden verpasst und versprochene Produktfeatures nicht realisiert. Dies führt erst zu Druck, dann zu Fehlern und schließlich zu massiven Zeitproblemen, die schlimmstenfalls in der Zahlungsunfähigkeit enden.

Die Digitalisierung auf einen Schlag liest sich auf dem Papier gut. Die Karte ist indes nicht das Gebiet. Es fehlen sowohl die Ressourcen als auch die Kapazität, um alle technologischen Ideen auf einen Schlag umzusetzen. Gründer sollten daher einen Gang runterschalten und im Sinne von Punkt zwei von Feature zu Feature zu denken. Eine digitale Plattform braucht mehr als drei Köpfe, drei Macbooks und eine schnelle Internetleitung. Sie braucht in traditionell analogen Branchen insbesondere gründliche Execution und einen Fokus auf wenige, dafür effektive digitale Features. Erst wenn dieses Minimum Digital Product errichtet ist, sollten Gründer einen Gang höher schalten.