Case Study:

Das Amazon Universum

26/08/2017
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Mit dem Buch „Fluid Concepts and Creative Analogies: Computer Models of the Fundamental Mechanisms of Thought“ von Douglas R. Hofstadter fing das Internetzeitalter an, wie wir es heute kennen. Denn das war das erste Buch, das ein damals unbekannter Jeff Bezos mit seinem ebenfalls unbekannten Versandbuchhandelsunternehmen Amazon.com im Juli 1995 verschickte. Bücher waren ziemlich praktisch für den Versand: gut zu lagern, gut zu verschicken, gut informierte Kunden und somit kaum Rücksendungen. Doch auch kompliziertere Warengruppen schrecken den Onlineriesen nicht, wie inzwischen vermutlich jeder Händler weiß.

Mode: Prime Wardrobe

Mit dem neuen Service „Amazon-Prime-Wardrobe“ will der Onlinehändler den Modehandel aufmischen. In einem Test in USA können Kunden sich drei bis 15 Kleidungsstücke aus dem „Kleiderschrank“-Angebot kostenlos liefern lassen, anprobieren und den Rest bei Nichtgefallen innerhalb von sieben Tagen in einem wiederverschließbaren Karton mit präparierter Klebestelle zurückschicken. Ein vorausbezahltes Retourenetikett liegt bei, die Kleiderboxen werden direkt an der Haustür abgeholt. Neu an dem Modeversand ist, dass die Kunden belohnt werden, wenn sie Teile nicht zurückschicken: Wer mindestens drei Teile behält, bekommt 10 Prozent Rabatt. Ab fünf Teilen gibt es 20 Prozent Ermäßigung.

Elektronischer Style-Assistent: Amazon Look soll Kunden dabei helfen, die passende Kleidung zu finden. (Bild: Amazon)

Im April präsentierte Amazon mit „Echo Look“ zudem eine Kamera für die Sprachassistentin Alexa, mit der Kunden bei der Auswahl ihrer Outfits zu Hause beraten werden. Vermutlich wird dieses Angebot künftig mit Wardrobe verknüpft. Einen weiteren Erfolg in Sachen Modesortiment konnte Amazon kürzlich zudem durch eine Vereinbarung mit Nike verbuchen: Der Markenhersteller verkauft einen Teil seiner Produkte an Amazon. Durch die Kooperation will Nike in den USA bis zu 500 Millionen Dollar (449 Millionen Euro) mehr Umsatz erzielen. Konkurrent Adidas nutzt Amazon bereits seit drei Jahren als Vertriebskanal und konnte auch dadurch Marktanteile in Nordamerika hinzugewinnen.

Lebensmittel: Amazon Fresh

Seit diesem Jahr liefert Amazon auch an deutsche Kunden frische Lebensmittel – erst mal in Berlin, Potsdam und München. Die Kunden in der Hauptstadt beispielsweise können aus 85.000 Produkten wählen, wirbt Amazon, außerdem seien mehr als 100 Produkte von kleinen lokalen Geschäften erhältlich. Zum Vergleich: Ein Selbstbedienungswarenhaus wie Real hat bis zu 60.000 Produkte im Angebot. Wer bis zum Mittag bestellt, kann ab 16 Uhr sein Essenspaket zu Hause annehmen. Wer bis 23 Uhr abends ordert, erhält das Paket am nächsten Tag zur gewünschten Zeit in einem Zwei-Stunden-Fenster. Amazon Fresh kostet Prime-Mitglieder 9,99 Euro monatlich – mit unbegrenzter Anzahl an Gratis-Lieferungen bei einem Mindestbestellwert von je 40 Euro. Liegt der Bestellwert darunter, werden 5,99 Euro pro Lieferung fällig. Die Fresh-Mitgliedschaft kann monatlich gekündigt werden. Logistikpartner ist DHL.

Von Äpfeln bis Zwiebeln bringt Amazon in Kooperation mit anderen Händler auch Lebensmittel bis zur Haustür. (Bild: Amazon)

Lebensmittel II: Amazon GO

Amazon Go ist der erste Supermarkt ohne Kassen. Der neue Convenience-Store für Lebensmittel, Snacks und Getränke in Seattle (2131 Seventh Avenue) ist 170 Quadratmeter groß und eröffnete im Dezember 2016, zunächst nur für Mitarbeiter.

„Deshalb kann der Kunde den Laden dann ohne von einem Bezahlvorgang aufgehalten zu werden mit der Ware verlassen“

Die Kunden checken per App und QR-Code-Scan im Laden ein. Kameras und eine Kombination unterschiedlicher Sensoren erkennen, welche Produkte Kunden aus dem Regal nehmen – oder wieder zurückstellen. Deshalb kann der Kunde den Laden dann ohne von einem Bezahlvorgang aufgehalten zu werden mit der Ware verlassen. Die Abrechnung erfolgt per App.

Kassenbereiche abzuschaffen ist im Einzelhandel keine neue Idee, denn sie sind personal- und kostenintensiv und die Kundschaft ist oft genervt von langen Wartezeiten. Vor rund zehn Jahren erprobten deshalb Technikkonzerne wie IBM bereits Modelle mit den RFID-Funketiketten. Diese scheiterten unter anderem, weil die Etiketten zu teuer sind, um sie auf günstige Supermarktartikel zu kleben, und weil die Funktechnologie bei dem automatischen Auslesen der Etiketten beispielsweise von Konserven oder Tiefkühlpizza an ihre Grenzen gerät.

„Bezos sieht im stationären Handel statt einer aussterbenden Spezies lediglich eine neue Industrie, die Potenzial für großes und schnelles Wachstum bietet“

Lebensmittel III: Whole Foods Market

Auch stationär will es Amazon wissen: Der US-Konzern hat im Juni angekündigt, den Lebensmitteleinzelhändler Whole Foods Market für insgesamt 13,7 Milliarden Dollar in bar zu kaufen. „Ihre Arbeit ist hervorragend, so soll es weitergehen“, zitieren amerikanische Medien Amazon-Gründer Jeff Bezos. Auch sonst deutet nichts darauf hin, dass es dem 1980 gegründeten Bio-Supermarkt mit seinen rund 430 Filialen an den Kragen gehen oder das Unternehmen zu einer Amazon-Fresh-Supermarktkette umgemodelt werden soll. Laut Amazon bleibt der Vorstandschef und Mitgründer von Whole Foods, John Mackey, im Amt, und auch die Zentrale der Firma soll in Austin bleiben. Whole Foods soll vielmehr seine Marktanteile ausbauen, auf Effizienz getrimmt werden und weitere Filialen eröffnen. Bezos ist undogmatisch, was die einzelnen Kanäle angeht, und sieht im stationären Handel statt einer aussterbenden Spezies lediglich eine neue Industrie, die Potenzial für großes und schnelles Wachstum bietet. Der Onlinehändler wird Whole-Foods-Know-how für Amazon Fresh nutzen und umgekehrt Technologien und Onlinekonzepte in den stationären Handel einbringen.

Konsumgüter: Amazon Dash

Hundefutter, Waschmittel, Playboy: Ein kurzer Druck aufs Knöpfchen und Nachschub ist unterwegs. Mit den Dash Buttons hat Amazon im Herbst vergangenen Jahres einen intelligenten Knopf auf den Markt gebracht, der sich zu Hause über das WLAN per App mit dem eigenen Amazon-Konto auf dem Smartphone verbindet und auf Knopfdruck das Produkt eines Markenherstellers bestellt, das ihm zugewiesen ist. So ein Dash Button – aktuell gibt es gut 50 in Deutschland – kostet einmalig 4,99 Euro, da Amazon aber auf den ersten Einkauf einen Rabatt von 4,99 gewährt, ist der Nachschub-Knopf de facto gratis.

Rasierschaum alle? Die nächste Lieferung kommt auf Knopfdruck. Ohne Preis- und Produktvergleich. (Bild: Amazon)

Clever ist, dass der Kunde bei der bequemen Bestellung weder nach Produktalternativen sucht noch Preisvergleiche mit anderen Lieferanten anstellt, sondern ein Knopfdruck die Lieferkette in Gang setzt. Ist ein angefordertes Produkt kurzfristig nicht lieferbar, wird laut Amazon automatisch ein entsprechender Ersatzartikel der gleichen Produktart und derselben Marke, aber möglicherweise mit leicht abweichender Füllmenge ausgeliefert. Damit man nicht versehentlich mehrfach Waschmittel & Co. bestellt, wird der Dash-Button nach einer Bestellung so lange blockiert, bis diese ausgeliefert wurde. Diese Sperre kann der Kunde auch deaktivieren. Die nicht wieder aufladbare Batterie soll rund 1.000 Bestellungen schaffen, dann wird der Dash Button zu Elektronikschrott.

KFZ-Handel: Neuwagen

Die Automobilbranche munkelt, dass Amazon bald in den Verkauf von Neuwagen einsteigen wird. Im Juni berichtete die Zeitschrift „Automobilwoche“, dass der Handelsriese sich Großbritannien als ersten Testmarkt ausgesucht hat und das Geschäft von Luxemburg aus gesteuert werden soll.

Dem Bericht zufolge hat Amazon dafür bereits hochkarätiges Personal angeworben. Der Autoverkauf über das Internet ist nicht neu. Portale wie Mobile.de, Autoscout24. de oder Auto.de bieten seit Jahren Händlern eine Plattform, um Neuwagen zu verkaufen. Dass der Milliardenmarkt das Interesse des Marktplatzbetreibers aus Seattle weckt, ist nicht weiter verwunderlich. Zumal seit 2008 in Deutschland mit dem Shop „Auto & Motorrad“ unter amazon.de/auto schon eine Plattform für Ersatzteile und Zubehör zur Verfügung steht, bei der die Kunden ihre fahrbaren Untersätze konfigurieren, um die passenden Teile angezeigt zu bekommen.

Kundenbindung: Prime

Amazon hat mit seinem Prime-Universum ein perfektes Kundenbindungsinstrument mit den Zauberworten „unbegrenzt“ und „kostenlos“ etabliert. Gestartet ist der Service mit einer schnelleren Lieferung im November 2007 in Deutschland, nach Zahlung eines jährlichen Mitgliedsbeitrags von damals 29 Euro bekam der Kunde ohne weitere Kosten viele Artikel direkt am nächsten Tag geliefert, mit vergünstigtem Expressversand sogar noch schneller.

Mit Prime Now liefert Amazon Bestellungen noch am gleichen Tag. (Bild: Amazon)

Seit diesem Jahr zahlt der Kunde für die Prime-Mitgliedschaft 69 Euro, aber er bekommt auch inzwischen deutlich mehr für sein Geld: In ausgewählten Metropolregionen ist die taggleiche Lieferung gratis, es gibt besonderen Angebote nur für Prime-Kunden und am „Prime Day“ noch einmal Hunderttausende Schnäppchen nur für die Mitglieder, man kann unbegrenzt Filme und Serienepisoden mit Prime Video schauen, unbegrenzt Fotos auf Amazon Drive speichern, bekommt Rabatte auf Videospiele und ein kostenloses Abonnement des Videokanals Twitch, kann sich bei Prime Music kostenlos mehr als zwei Millionen Lieder anhören und hat über Prime Reading unbegrenzten Zugriff auf Hunderte von E-Books, E-Magazine, Comics und Kindle-Literatur. Amazon bietet den Kunden die Möglichkeit, „Amazon-Prime“ im Rahmen einer kostenlosen 30-tägigen Probemitgliedschaft zu testen.

Bezahlen: Pay

Amazon Pay ist ein Dienst, mit dem Amazon-Kunden auch bei Onlineshops bezahlen können, die nicht zu Amazon gehören, ohne dass sie dem „fremden“ Händler die Zahlungsdaten offenlegen müssen. Der Dienst, der seit April 2011 bei deutschen Händlern verfügbar ist, ist für Kunden kostenlos. Händler zahlen eine Gebühr in Höhe von 35 Cent pro Transaktion sowie zwischen 1,2 bis 1,9 Prozent des monatlichen Zahlungsvolumens von Amazon Pay.

„Statt in teure IT-Infrastruktur und Hardware zu investieren, können Webangebote auf den virtuellen Servern von Amazon laufen“

IT: Web Services

Von wegen, Cloud ist nur was für Große: 2007 kamen Amazon Web Services (AWS) auf den europäischen Markt und versprachen Softwareentwicklern, Startups und Unternehmen von klein bis groß einen einfachen Zugang zu hoch skalierbarer, zuverlässiger, schneller und preiswerter Cloud-Datenspeicherung. Von Data Warehousing bis zu Tools für die Bereitstellung, von Verzeichnissen bis zur Bereitstellung von Inhalten stehen inzwischen mehr als 50 Services mit nur wenigen Mausklicks zur Verfügung, verspricht Amazon. Neue Services könnten ohne Vorabkosten schnell bereitgestellt werden und ermöglichen es Anwendern, schnell auf die Bausteine zuzugreifen, die sie für eine prompte Reaktion auf wechselnde geschäftliche Anforderungen benötigen. Für nicht wenige Startups ist die Cloud-Plattform von Amazon die technische Basis: Statt in teure IT-Infrastruktur und Hardware zu investieren, können Webangebote auf den virtuellen Servern von Amazon laufen. Selbst der Modeonlinehändler Zalando zählt zu den Kunden der Amazon Web Services. Und wer in diesen Zeiten Sorgen um seine Unternehmensdaten hat: Für sein Rechenzentrum in Frankfurt wirbt der Konzern mit dem Hinweis, dass die am Main abgelegten Daten nicht in den USA gespiegelt werden.

Startups: Launchpad

USA, Großbritannien, China – und seit einem guten Jahr auch Deutschland: Mit „Amazon Launchpad“ will der Onlineriese junge Unternehmen dabei unterstützen, ihre Produkte besonders einfach auf den Markt zu bringen und Millionen von Kunden in Deutschland und der ganzen Welt zu erreichen. Die Erfinder bekommen Hilfe bei den Produktseiten und im Marketing, damit ihre Innovationen leichter auffindbar sind, sowie direkten Zugang zu Amazons globalem Logistiknetzwerk.

„Die Jungunternehmer müssen erst ein Bewerbungsverfahren durchlaufen“

Die Produktkategorien reichen von Elektronik über Connected Home und Garten bis hin zu Gesundheit. Zu den Angeboten aus Deutschland zählen unter anderem die kabellosen Kopfhörer „The Dash“ des Münchner Startups Bragi sowie „Airy“, die hochwirksame Luftreinigung mit Zimmerpflanzen des Hamburger Unternehmens Airy Greentech. Die Jungunternehmer müssen erst ein Bewerbungsverfahren durchlaufen, bevor ihre Produkte angeboten werden können.