Der Amazonisierung entfliehen

04/02/2019
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Zwischen Konzertschnappschüssen, Hundeporträts und Strandselfies von Freunden erschienen sie plötzlich und ungefragt: Fotos von sympathisch aussehenden Menschen, die schlichte Uhren mit einem dezenten Anker-Logo tragen. Die offensichtlich gesponserten Instagram-Posts weckten Interesse – selbst bei jemandem, der sich eigentlich nichts aus Influencern und Uhren am Handgelenk macht. Genau dieses clevere Marketing begründet mittlerweile eine der erfolgreichsten deutschen Vertical-Commerce-Geschichten: Die Uhren stammen von dem 2014 in Münster gegründeten Label Kapten & Son, das von Anfang an als Vertical Brand angelegt war und heute mit rund 650.000 Followern laut InstaDB zu den umsatzstärksten deutschen Startups auf Instagram zählt. Doch was genau zeichnet Vertical Commerce (VC) aus und wie schaffen es so genannte Digital Native Vertical Brands (DNVB) wie Kapten & Son im Windschatten des E-Commerce-Riesen Amazon höchst erfolgreich zu wachsen?

Über Social Media direkt zum Verbraucher

Zunächst einmal zählt man alle Marken und Produkte zum Vertical Commerce, die die komplette Wertschöpfungskette unter einem Dach integrieren – vom Design bis zur Produktion. Dabei werden dank der fortschreitenden Digitalisierung immer neue direkte Formen der Kommunikation und Interaktion mit dem Kunden etabliert. Über Social-Media-Kanäle etwa können Marken ohne Zwischenstopp über Drittanbieter emotionale Verbindungen zu ihren Kunden aufbauen und Produkte ohne Umwege vertreiben. „Diese Marken sind ganz auf das Kundenerlebnis ausgerichtet und nutzen für die Interaktion mit den Verbrauchern, den Handel und das Storytelling fast ausschließlich das Web“, erklärt Andy Dunn, CEO des New Yorker Fashion-Startups Bonobos, das neben dem Matratzenhersteller Casper und dem Brillenhersteller Warby Parker zu den ersten DNVB‘s in den USA zählte und damit eine neue Generation an VC-Marken etablierte.

Betrachtet man erfolgreiche Vertical Brands, findet man schnell Gemeinsamkeiten: Mustergültig verstehen sie es beispielsweise, ein einheitliches Markenbild mit klarer Identität zu schaffen, wobei die Erzeugung eines positiven Markenerlebnis immer im Mittelpunkt steht. Ihre konsequent umgesetzte Digitalstrategie bringt vertikal integrierten Marken mehrere Vorteile: Indem sie den klassischen Handel umgehen, lassen sich letztlich höhere Margen und ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis für den Endverbraucher erzielen. Außerdem sorgt das datengetriebene und trackingbasierte Direktmarketing dafür, dass DNVB’s ihre Kunden sehr gut kennen. Das schafft emotionale Nähe und im Optimalfall eine starke Kundenbindung. „Die Idee ist, dass man der Amazonisierung des E-Commerce ein Stück weit entflieht, weil man etwas aufbaut, was erstmal nicht mit irgendwelchen Drittmarken vergleichbar ist“, betont Florian Heinemann, Marketingexperte und Partner beim Frühphaseninvestor „Project A“. „DNVB’s unterliegen im besten Fall also keinem direkten Preiswettbewerb.“

„Weg zu Neukunden wird von Amazon abgeschnitten“

Wie hoch der Druck auf etablierte und neue Marken im E-Commerce derzeit ist, zeigt eine aktuelle Studie des Kölner Handelsforschungsinstituts IFH mit dem Titel „Die Amazonisierung des Konsums“. Der Marktanteil von Amazon am deutschen Online-Handel wird darin 2018 mit 46 Prozent bemessen, wobei eigene Verkäufe und die Umsätze der Händler, die Amazon als Plattform nutzen, berücksichtigt sind. Auffallend sind laut Eva Stübner von der IFH-Geschäftsleitung vor allem Zahlen zur Kundenbindung: Demnach nutzen bereits bestehende Amazon-Kunden den Service des amerikanischen Internetgiganten immer häufiger und intensiver – zu Lasten von anderen digitalen Marktplätzen und Online-Shops. „Der Weg zu Neukunden wird für andere Anbieter regelrecht abgeschnitten“, sagt Stübner.

Dass in diesem Umfeld nicht jedes DNVB-Konzept automatisch eine Erfolgsgeschichte wird, versteht sich von selbst. Oft unterschätzen Startups vor allem die Kosten für das Online-Marketing und die Abhängigkeit von Plattformen zweier anderer großer US-Konzerne: Facebook und Google. Über Instagram, Youtube & Co. lässt sich die anvisierte Zielgruppe der Digital Natives zwar massenhaft erreichen, allerdings nicht kostenlos. Seit Jahren steigen die Preise für gesponserte Inhalte kontinuierlich. Wichtig ist laut Marketingexperte Heinemann deshalb: „DNVB’s müssen direkte Kundenbeziehungen aufbauen, über die sie Folgetransaktionen generieren, ohne dass weitere Kosten an Google oder Facebook entstehen.“

Die gesamte Social-Media-Klaviatur nutzen

Angesichts der wachsenden Zahl an erfolgreichen Vertical Brands fragen sich mittlerweile immer mehr etablierte Marken, was sie von den neuen Anbietern lernen können. Neben der von traditionellen Marken noch immer vernachlässigten Nutzung der Social-Media-Klaviatur – etwa individualisierte Kommunikation durch gezielt eingesetzte Influencer und Markenbotschafter – sticht dabei vor allem der kreative Aufbau neuer Markenbedürfnisse hervor. „DNVB-Vorreiter Casper ist da ein interessantes Beispiel: Die Marke hat es geschafft, Matratzen zu einem Lifestyle-Produkt aufzubauen, das man sich neuerdings ganz selbstverständlich an die Haustüre liefern lässt. Oder Warby Parker, die Brillen als Accessoires etabliert haben, die man nach Lust und Laune wechselt“, betont Heinemann.Dieser Artikel erschien zuerst in der Berlin Valley Nr. 30.Auch wenn die wachsende Übermacht von Amazon derzeit daran zweifeln lässt, glauben immer mehr Analysten, dass sich die DNVB-Konzepte innerhalb der E-Commerce-Branche langfristig durchsetzen. In den USA betrug der Anteil der DNVBs am amerikanischen E-Commerce-Markt (453 Milliarden US-Dollar Umsatz) im vergangenen Jahr bereits zwei Prozent. Laut US-Handelsministerium wuchsen die jungen, wilden Marken dabei dreimal so schnell wie herkömmlichen E-Commerce-Einzelhändler. Auch innerhalb des deutschen E-Commerce-Marktes, für den im Jahr 2018 ein Volumen von 50 bis 60 Milliarden Euro prognostiziert wird, sehen die Zahlen ähnlich aus. „Direct-to-Consumer-Modelle, mit denen man Folgetransaktionen mit abnehmenden Marketingausgaben generieren kann, sind für neue Unternehmer im Prinzip schon seit ein paar Jahren die einzige Chance, um überhaupt noch in den Markt reinzukommen“, sagt Maketingexperte Heinemann.

„Freundlicherer, reaktionsfähiger Kundenservice“

Die Auswirkungen, die diese Entwicklung für den Verbraucher hat, beschrieb Wirtschaftjournalist Farhad Manjoo unlängst in der New York Times: „Wir werden schon bald eine noch breitere Palette von Produkten erhalten. Wenn Unternehmen nicht eine einzige Marke für jedermann im Fernsehen vermarkten müssen, können sie eine Vielzahl von Produkten schaffen, die gezielt auf zuvor vernachlässigte Verbrauchergruppen zugeschnitten sind“, schreibt Manjoo und betont: „Und weil die meisten Unternehmen, von denen wir bald kaufen, bereits online geboren sind, wo Reputation stark von der Mundpropaganda anhängt, werden sie uns sehr wahrscheinlich einen freundlicheren, reaktionsfähigeren Kundenservice anbieten als ihre gesichtslosen Offline-Kollegen.“

Bei allem Digital-Native-Optimismus – wie lange das Konzept Online-only für die Newcomer-Unternehmen erfolgversprechend bleibt, müssen Vertical Brands erst noch beweisen. Zumindest einige der schnell gewachsenen Startups scheinen ab einer gewissen Größe dankend auf Altbewährtes zurückzugreifen: So haben sowohl Casper als auch der deutsche DNVB-Vorreiter Kapten & Son mittlerweile mehrere Pop-up-Stores eröffnet, in denen man ihren jeweiligen Produkten haptisch begegnen kann.