Agiles Arbeiten:

„Wir wussten, dass es so nicht weitergehen kann“

30/07/2017
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Als ich zusammen mit meinem Studienkollegen Thilo Salmon im Jahr 2004 Sipgate gründete, schien alles perfekt. Wir waren der erste Internettelefonieanbieter Deutschlands. Mit 13 Mitarbeitern sind wir gestartet und es ging schnell bergauf. Im Jahr 2009 konnten wir dann mit „Sipgate team“ sogar Firmenkunden erreichen. Schnell wuchs unser Unternehmen auf 70 Mitarbeiter. Die Umsätze stimmten, doch intern hakte es. Das Unternehmen wurde langsamer und weniger produktiv. Mit dem Wachstum kamen mehr und mehr Probleme. Je mehr Mitarbeiter wir einstellten, desto unstimmiger wurden die internen Prozesse, was sich auf die Weiterentwicklung unserer Produkte auswirkte. Es fehlte schlichtweg an einer funktionierenden Kommunikationsstruktur. Die Folge: Entscheidungen wurden vertagt, Informationen gingen verloren, die Softwareentwicklung stagnierte. Hinzu kam, dass fast jegliche Entscheidung von Thilo und mir getroffen wurde. Sind wir mal nicht dazu gekommen, lag das Projekt eben solange auf Eis.

„Schritt für Schritt. Bloß nicht alles auf einmal! Jedes Team adaptierte für sich das, was passte“

Das sind Probleme, die schnell wachsende Unternehmen häufig erfahren. Die Märkte verändern sich heutzutage rasend schnell, die Unternehmen kommen in ihrer Entwicklung oft nicht hinterher. Sie agieren zu langsam, stellen die Weichen zu langfristig. Spätestens als wir nach einer unverhältnismäßig langen Entwicklungsphase ein neues Feature an Kunden ausgerollt haben und dann feststellen mussten, dass es an vielen Stellen fehlerhaft war, wussten wir, dass es so nicht weitergehen kann.

Der erste Schritt zum agilen Arbeiten

Eines Tages kam ein Kollege mit dem Vorschlag auf mich zu, Scrum – das wohl bekannteste Framework für agiles Arbeiten – zu testen. Agiles Arbeiten: Das bedeutet, Dynamik und Beweglichkeit; schnell und flexibel arbeiten. Agile Unternehmen können schneller auf äußere Einflüsse reagieren als nicht-agile Unternehmen. Ein Merkmal der agilen Arbeitsweise ist das kleinschrittige Vorgehen, das sogenannte iterative Arbeiten. Danach versuchen Teams, größere Projekte in kleinere, jedes für sich aber Kundenwert schaffende Arbeitspakete zu unterteilen, um möglichst früh Kundenfeedback in den Entwicklungsprozess einbeziehen zu können. In jedem Team sind unterschiedliche Kompetenzen vertreten und bei uns sind alle hierarchisch absolut gleichgestellt. Unternehmen, die agil arbeiten, wird durch das frühe Testen am Kunden eine wesentlich höhere Effektivität unterstellt.

Präsentationen der Projekte gehören zur neuen Transparenz (Bild: Sipgate)

Genau das war es, was wir brauchten. Es war nun wichtig, die neuen Prozesse erst einmal im kleinen Rahmen umzusetzen. Das haben wir damals auch so gemacht. Als erstes haben unsere Entwickler die neue Arbeitsweise eine Woche lang getestet, dann erst folgte die Umstellung des gesamten Unternehmens. So konnten wir schon etwas Erfahrung sammeln und Fehler machen, die wir im großen Rahmen dann vermeiden konnten. Es folgten weitere Teams. Schritt für Schritt. Das empfehle ich. Bloß nicht alles auf einmal! Jedes Team adaptierte für sich das, was passte.

Größte Hürde bei der Umsetzung: Mitarbeiter überzeugen

Wie erwartet, reagierten viele Mitarbeiter mit wenig Verständnis. So ein Arbeitsalltag ohne Hierarchien, komplette Selbstverantwortung der Teams, keine Entscheidung – außer große strategische Entscheidungen – läuft mehr über den Tisch der Geschäftsleitung. Das war schwer.

Scrum und agiles Arbeiten sind erst einmal unintuitiv. Etwa das Pairing: Eine Technik aus XP, einer anderen agilen Vorgehensweise. Hier sitzen immer zwei Entwickler an einem Rechner – einer tippt, der andere behält den Überblick. Die Rollen werden regelmäßig gewechselt. Scheint erstmal komisch, ist aber auf den zweiten Blick sehr effektiv. Der erstellte Code weist eine höhere Qualität auf und das Unternehmen vermeidet so Wissensinseln.

Auch die Einführung der morgendlichen Stand-up-Meetings und die vielen Klebezettel, die nun ganz plötzlich in den Arbeitsalltag gehören – damit konnten viele erstmal nichts anfangen. Sie waren der Meinung, diese Arbeitsschritte behindern eher, als dass sie helfen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Klebezettel lassen sich leicht beschreiben, umhängen, korrigieren und zu Themen gruppieren. Und es erhöht die Sichtbarkeit von Arbeit: Jeder kann sehen, woran die anderen gerade arbeiten und welche Ergebnisse es gibt.

„Die neue Arbeitsweise erfordert schlichtweg ein komplettes Umdenken und ein Infragestellen der ursprünglichen Arbeitsweisen“

Und da sind wir schon beim Thema Transparenz. Das ist ein wichtiger Bestandteil agilen Arbeitens. Und auch das ist ein Punkt, der vielen Mitarbeitern Bauchschmerzen bereiten könnte. Das Offenlegen der Ergebnisse etwa könnte zu Konkurrenzdruck führen. Hier empfehle ich ganz klar: Kommuniziert den Mitarbeitern, dass es um das große Ganze geht, um das gemeinsame Erreichen der großen Ziele und nicht um die Bewertung des Einzelnen.

Die neue Arbeitsweise erfordert schlichtweg ein komplettes Umdenken und ein Infragestellen der ursprünglichen Arbeitsweisen. Das ist sehr anstrengend. Von den Mitarbeitern wird eine Menge Eigenorganisation verlangt. Uns hat es damals eine Menge Mitarbeiter gekostet. Viele derer, die damals die Umstellung miterlebt haben, sind heute nicht mehr da. Sie konnten sich zum Teil auch nach Jahren nicht mit der neuen Arbeitsweise anfreunden.

Daher ist bei der Einführung agiler Prozesse das A und O: das Mindset der Mitarbeiter. Ihnen sollte in Trainings und auch in Einzelgesprächen die neue Arbeitsweise und der Sinn dahinter von Grund auf erklärt werden. Ich empfehle dringend: Holt eure Mitarbeiter ab. Involviert sie in den Prozess und macht ihnen die Wichtigkeit und Erfolgschancen klar, die eine Umstellung mit sich bringt. Bietet ihnen an, sich jederzeit mit Bedenken an euch zu wenden. Das macht vieles einfacher.

Das Sipgate-Team hat sich trotz anfänglicher Hürden an die neuen Bedingungen gewöhnt. (Bild: Sipgate)

Agiles Arbeiten heute?

So eine Transformation geht natürlich nicht von heute auf morgen. Bei uns hat die gesamte Umstellung zwei Jahre gedauert. Aber es hat sich gelohnt. Wir haben heute knapp 130 Mitarbeiter und erhalten rund 100 Bewerbungen pro Woche. Wir merken, dass der Zusammenhalt der Angestellten und deren Zufriedenheit zwei wichtige Faktoren für den Erfolg sind. Wir machen zum Beispiel keine Überstunden. Darauf achten wir sehr.

Insgesamt hat sich die Geschwindigkeit der Entwicklung erhöht und die Qualität des Produktes hat sich merklich verbessert. Ich empfehle jedem Unternehmer diesen Schritt, es lohnt sich.

SIPGATE

NAME: Sipgate
GRÜNDUNG: 2004
GRÜNDER: Tim Mois und Thilo Salmon
MITARBEITER: 120
STANDORT: Düsseldorf
SERVICE: Sipgate ist ein in Deutschland und Großbritannien aktiver Anbieter von VoIP-Telefonie. Sipgates Grundstein wurde 1998 im Studentenwohnheim mit zwei Mitarbeitern und dem Tarifvergleich billiger-telefonieren.de gelegt.
URL: sipgate.de