Virtuelle Selbstfindung

09/11/2016
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Die Technologien Virtual und Augmented Reality (VR und AR) bieten ungeahnte Möglichkeiten. Besonders die TV-, Film- und die Games-Industrie befassen sich damit. Arte testet kurze 360-Grad-Reportagen, Sky bietet in der Sky VR App kurze Clips und hat beim letzten DFB-Pokalfinale auch schon einen VR-Test durchgeführt. Der Zuschauer befand sich hinter der VR-Brille in einem virtuellen Raum, von dem aus er das Fußballspiel durch ein Fenster verfolgen konnte. Im Raum ließen sich Spielstatistiken in Echtzeit abrufen. Die durchschnittliche Sehzeit für diese Anwendung lag bei etwa fünf Minuten. „Ein ganzes Fußballspiel in Virtual Reality anzuschauen ist anstrengend. Das ist selbst für den härtesten Fan unerträglich“, sagt Alessandro Reitano von Sky beim Virtual Reality Roundtable von Media.Connect Brandenburg.

Vielleicht sind die Fans aber auch so schnell abgesprungen, weil die VR-Erfahrung schlicht langweilig war und nicht, weil sie sie überforderte. Abgeschottet hinter einer riesigen Brille und Kopfhörern durch ein Fenster auf ein Fußballspiel zu schauen, ist nicht besonders sexy. Die Interaktion mit Freunden fällt weg, man sieht sein Bier nicht mehr und das Stadion-Feeling, das man sich von der virtuellen Realität vielleicht verspricht, gibt es nicht. Was nach einer tollen Möglichkeit klingt, geht völlig an den Bedürfnissen und Gewohnheiten der Zuschauer vorbei. Die Brille und die damit verbundene Abschottung ist eine hohe soziale Hürde.

Kann VR das Fernsehen ersetzen?

Dass die Frage, ob Virtual Reality das Fernsehen ersetzt, überhaupt diskutiert wird, zeigt: Da hat jemand was verpasst. VR ist nur eine Technologie. Die spannende Frage ist, welche Anwendungsmöglichkeiten sich dafür finden. Das Fernsehen könnte eine Anwendung sein, doch in vielen Haushalten läuft der Fernseher nebenbei zum Bügeln, zum gemeinsam abends auf der Couch liegen, zum Essen, zum Einschlafen. Das Bedürfnis, das das Fernsehen hier erfüllt, lässt sich mit dem immersiven Erlebnis hinter der VR-Brille nicht decken. Im Bereich TV kann die virtuelle Realität also allenfalls ergänzen. Wie genau das aussehen wird, ist bisher nicht abzusehen. „Welcher Content mit VR funktioniert, müssen wir erst noch herausfinden“, sagte Michael Hammon, der an der Filmuniversität Babelsberg zu dem Thema forscht.

Technik ohne Business Model

Die Möglichkeiten, die VR und AR bieten, sind vielfältig. Doch nur weil etwas möglich ist, wird es lange nicht sinnvoll. Jetzt geht es darum, aus den Möglichkeiten Geschäftsmodelle zu machen. Im B2C-Sektor ist die Games-Industrie weit vorne was diese Entwicklung angeht. Gamer sind technikaffin, sitzen oft allein vor dem Computer oder der Konsole und lassen sich gern völlig in die Welt ihres Spiels ziehen: die optimale Zielgruppe für VR und ein Spielplatz für neue Entwicklungen. Auch andere Formen von Unterhaltung sind denkbar. Der Europapark in Rust testet VR-Achterbahnen.

Der Blick in die Glaskugel zeigt viele weitere spannende Möglichkeiten: Vielleicht besichtigen wir Immobilien zukünftig mit einer VR-Brille vom Maklerbüro aus bevor wir uns den Favoriten live ansehen. Daran arbeitet beispielsweise das Startup VR Now aus dem You is Now Accelerator von Immobilienscout24.

Vielleicht laufen wir durch virtuelle Möbelhäuser und richten unsere Wohnung in computergenerierten Räumen ein, bevor die Möbel zu uns nach Hause geliefert werden. Saturn testet in Berlin und Ingolstadt gerade einen VR-Küchenplaner. Wer weiß, ob diese Technologie nicht sogar Ikea eines Tages von der Bildfläche verschwinden lässt?

Vielleicht bewegen Schulklassen sich zukünftig gemeinsam durch Städte, über Planeten und durch Museen. Das Startup Opuscope bietet hierzu bereits Möglichkeiten. Im Berliner Naturkundemuseum hat Shoutr Labs bereits eine AR-Erweiterung für ein Dinosaurierskelett umgesetzt. Womöglich arbeiten Architekten und Designer zukünftig nicht mehr an zweidimensionalen Bildschirmen, sondern erstellen ihre Modelle direkt im dreidimensionalen Raum.

Und das ist nur ein winziger Ausschnitt des Horizonts. Ob die Technologie das Fernsehen verdrängen wird, ist nicht die Diskussion, die sich jetzt zu führen lohnt.

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