Warum Peer Steinbrück dringend digitale Nachhilfe braucht

29/04/2013
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Peer Steinbrück hält eine Keynote auf der Digital-Konferenz NEXT 2013. Das Motto der Veranstaltung in Berlin lautete „Here be Dragons“ – ein alter lateinische Ausspruch („hic sunt dracones“) und auf frühen asiatischen Weltkarten ein Synonym für unerforschte Gegenden; für das große Unbekannte. Somit also das perfekte Motto für die Rede eines deutschen Politikers zum Thema Digitale Zukunft in Deutschland.

Eins vorweg. Wir sind meinungsfrei, wer unser Land ab September regieren soll, denn wir glauben felsenfest, dass derzeit keine der großen Parteien die Kompetenz besitzt, Deutschland sicher ins digitale Zeitalter zu führen. In Deutschlands großen Parteien herrscht seit Jahren digitaler Stillstand. Dabei wäre es höchste Zeit, die Weichen für die kommenden Jahrzehnte zu stellen. Und in diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich kein Thema wichtiger als die Digitalisierung!

Im Wahljahr kriechen sie aus ihren Löchern

Es ist Wahljahr und plötzlich versuchen Parteien Interesse an der Online-Welt und der Startup-Kultur zu demonstrieren. Startups sind hip und stehen für Optimismus und den Blick nach vorne. Für eine neue Ära voller Aufbruchsstimmung und Pioniergeist. Hier können Politiker außen- oder innenpolitische Probleme erst mal außen vor lassen. Also lässt man sich gerne blicken, bringt warme Worte mit und vielleicht auch mal ein Wahlgeschenk. Erst ist Wirtschaftsminister Philipp Rösler aus dem zweijährigen Dämmerschlaf erwacht und geht auf Startup-Kuschelkurs. Dann lässt Angela Merkel sich in einem Google Hangout blicken (prompt kommt die typisch deutsche Frage der typisch deutschen Besitzstandwahrer, ob man für Google+ Hangouts nicht eine Rundfunklizenz benötige – berechtigtes internationales Gelächter als Folge). Und auch Klaus Wowereit hat endlich begriffen, welch wichtige Impulse und internationales Ansehen Berlin dank seiner florierenden Startup-Szene erfährt (was jedoch mitnichten dazu führt, endlich so etwas wie eine klare digitale Standort-Strategie zu entwickeln).

Und nun meldet sich also Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (mit 22.000 Fans immerhin „Deutschlands tollster Facebook-Politiker” (im Vergleich: Barack Obama mit 35 Millionen Facebook-Fans) auf der Digitalkonferenz Next 2013 zu Wort. In einer 16-minütigen Keynote, Titel: The future of the digital economy“, umreißt er „seine“ „Vision“ für das digitale Deutschland. Nun könnte man sich ja eigentlich freuen und sagen „besser spät als nie“. Ein bisschen ist das auch so.

Digitale Führungsrolle oder digitaler Irrtum?

Doch was Peer Steinbrück dort (in okayem Englisch) vom Blatt abgelesen hat, war dürftig und zeugt von digitaler Kurzsichtigkeit. Man merkte schnell, dass ihn die digitalen Themen größtenteils nicht tangieren („ich stamme aus einer Zeit, in der man seine Musik noch im Plattenladen gekauft hat“). Steinbrück sieht große Chancen für Deutschland, eine digitale Führungsrolle gar. Denn Deutschland blicke auf eine etablierte Großindustrie, die weltweit ihresgleichen sucht. Als Beispiele nennt er Siemens, BASF und Daimler. Ein netter Satz zwar, aber a) hat er im digitalen Kontext keinerlei Relevanz und b) dürfte vor allem Daimler (neben Volkswagen und BMW) in den kommenden Jahren zu den größten industriellen Verlierern gehören. Das Konzept Auto hat seinen Höhepunkt in Deutschland überschritten. Die kommende Generation hat das Interesse am Besitz eines eigenen PKWs längst verloren. Collaborative Consumption heißt der Begriff der Stunde. Warum sollte man etwas besitzen, das 95 Prozent seiner Zeit nur rumsteht und die Optik unserer Innenstädte verschandelt? Diesbezüglich sind junge Menschen cleverer als ihre statussymbolbehafteten Eltern. Der einzige Zukunftsmarkt in der Automobilindustrie heißt Car-Sharing, was einen massiven Rückgang der Verkaufszahlen mit sich führen wird. Collaborative Consumption ist einer der Trends, die das Internet erst ermöglicht hat. Aber all dies nur am Rande. Es ist jedoch symptomatisch für Peer Steinbrücks Rede (und wahrscheinlich auch die Einstellung der deutschen Politik), diese deutschen Urgesteine gedanklich gegen die US-Tech-Unternehmen Apple, Microsoft und Google zu positionieren. Frei nach dem Motto “was soll uns schon passieren…?”.

Aber Steinbrücks Redenschreiber geht noch weiter. Er ist fasziniert vom 3D-Druck und erwartet, dass man in Zukunft seine Ersatzteile fürs Auto in der Werkstatt drucken lassen kann – ohne Lieferzeiten! Das mag stimmen. Doch a) ist dies ein bekannter Megatrend, der für alle 1.500 Anwesenden auf der Next 2013 mittlerweile Selbstverständlichkeit ist (die staunen höchstens noch über Rattenorgane, die seit kurzem aus dem Bio-Drucker kommen), b) hat Deutschland in diesem Segment nichts, aber auch gar nichts, zu melden (genau wie in den meisten anderen digitalen Zukunftsfeldern) und c) bedeutet dies vor allem, dass Unternehmen in der Automobil-Zulieferbranche künftig weniger Personal benötigen und weniger auf Vorrat produzieren. Wünschenswerte, aber leider auch negativ behaftete Effekte für alle Beteiligten. So sieht sie nun mal aus, die ungeschönte Zukunft (bitte nicht falsch verstehen: 3D-Druck ist eine der spannendsten Technologie-Revolutionen aller Zeiten, nur was Peer Steinbrücks Redenschreiber daraus macht, zeugt von distanzierter Ahnungslosigkeit).

Peer Steinbrücks Appell an die Banken!

Doch der Redenschreiber von Steinbrück hat ihm noch weitere Punkte ins Skript geschrieben: “Banken und Unternehmen sollen mehr in Startups investieren. (…) Wir brauchen mehr Mut!“. Man müsse die Banken dazu bekommen, dass sie in die produktiven Ideen junger Menschen investieren, anstatt dieses Geld in riskante, hoch spekulative Produkte zu investieren. Dafür gab es sogar gediegenen Szenenapplaus (endlich mal ein Politiker, der dem anwesenden Publikum aus der Seele spricht).

Doch Moment mal! Schauen wir uns auch dieses Szenario etwas genauer an. Banken investieren in Startups, z.B. E-Commerce. E-Commerce ist eine s.g. disruptive Bedrohung für den lokalen Einzelhandel. Es wird prognostiziert, dass sich der Anteil des Online-Handels in den kommenden sieben Jahren auf 100 Milliarden Euro verdreifacht. Die Zalandos dieser Welt (Zalando ist inzwischen, nach nur 4 Jahren, mit über 1 Milliarde Euro Umsatz die Nummer 2 im deutschen Schuhmarkt) überrollen die Deichmanns der Welt und provozieren eine Innsolvenz nach der anderen. Am Ende dieser Entwicklung (oder auch schon früher) werden etablierte Einzelhändler ihre teuren Innenstadt-Ladenmieten nicht mehr zahlen können (was bereits heute ja schon vielerorts der Fall ist). Es kommt zu unfreiwilligem Gewerbe-Leerstand. Folglich können Immobilienkredite nicht mehr bedient werden. Wir schauen in die USA und erinnern uns an den Begriff Immobilienblase. Nutznießer dieses Szenarios sind am Ende die Banken. Und da steht nun also ein Genosse (SPD, nicht FDP!) und fordert die Banken auf, diesen Prozess noch zu beschleunigen. Keine Frage - wir alle schätzen den E-Commerce. Doch man muss sich der Konsequenzen bewusst sein und sie thematisieren. Zusätzlich bedeutet E-Commerce natürlich, dass das Kapital wird aus den Innenstädten abgezogen, was zwangsläufig zu innerstädtischer Arbeitslosigkeit, Mindereinnahmen der Kommunen und somit zu einer Verrohrung der Innenstädte führen wird. Mönchengladbach allerorts.

Zweitens: Wer garantiert den Banken, dass die jungen Unternehmen, in die sie investieren sollen, keine hoch spekulativen, hoch riskanten Produkte sind bzw. nicht am Markt vorbei produzieren? Die Ausfallquote bei einem durchschnittlichen Venture Capital Unternehmen beträgt bis zu 80 Prozent. Genau deswegen nennt man dieses Kapital auch Risikokapital. Und dafür gibt es Gründe. Viele deutsche Jungunternehmen sind die Beweisführung noch schuldig (toi toi toi!).Und wir haben nicht zuletzt am Beispiel der Hypo Real Estate erlebt, was passiert, wenn sich Banken im großen Stil in Risikogeschäfte stürzen, von denen sie nichts verstehen. Zudem weiß jeder Gründer, der schon mal versucht hat, einen Bankkredit zu bekommen, dass in deutschen Banken ebenfalls das digitale Unwissen regiert. Woher sollte also die Kompetenz kommen, die Spreu vom Weizen zu trennen? Doch Steinbrück fordert ja auch nur ein „gesundes Maß an Risiko“ – was immer das bedeutet.

Steinbrücks digitaler Bildungsirrtum

Nächster Punkt von Steinbrücks Redenschreiber: „Der Laptop ist die Werkbank des 21. Jahrhunderts“. Peer Steinbrück fordert Laptops für alle Schüler und Studenten. Wie süß. Damit kann man heute vielleicht noch junge Eltern aus dem Ruhrpott ködern, mehr aber nicht. Denn weder Peer Steinbrück noch die jungen Eltern wissen, was die Schüler mit dem Laptop anfangen sollen. Zum einen hätten junge Schüler/innen (die „Generation Sexting“) zu heutiger Zeit freien Zugang zu Pornographie. Pornographie ist im Netz omnipräsent, daran hat sich nichts geändert. Ein Klick auf eine beliebige digitale Downloadseite und dem Schulkind lachen nackte Genitalien jeglichen Geschlechts entgegen. Ok, das wäre lösbar, wenn sich endlich mal jemand darum kümmern würde (aber wer bloß?). Was aber in dem Zusammenhang „ein Laptop für jeden Schüler“ viel wichtiger ist, ist die Frage, wie und was unsere Kinder und Kindeskinder in Zukunft überhaupt lernen sollen. Welche Lehrpläne und –inhalte werden wichtig? Ist Programmieren zu können nicht inzwischen wichtiger als Physik? Oder eine gekonnte Online-Recherche nicht wichtiger als Latein? Und wo sollen die Schüler und Studenten eigentlich künftig lernen? Wird es das ehrwürdige Schulgebäude noch lange geben? Peer Steinbrück gibt zu, dass auch das Bildungssystem noch in alten Strukturen verhaftet ist und modernisiert werden müsse. Wieder so eine Phrase – bloß nicht konkret werden.

Der digitale Vordenker Gunter Dueck propagiert seit Jahren, dass wir durch das Internet erstmals in die Lage versetzt werden, von den Besten der Besten zu lernen. Online-Videokurse sind das Thema der Zukunft. Unternehmen wie das Berliner Startup Iversity beginnen im großen Stil mit den s.g. MOOCs (Massive Open Online Courses) – natürlich (und da hat Steibrück teilweise recht) steht ihnen nur ein minimaler Bruchteil des Kapitals zur Verfügung, mit dem die amerikanische Konkurrenz (Udacity, Coursera oder Edx) ihr digitales Lernsystem ausrollt. Und damit verbunden kommt die nächste Frage: Was machen wir mit den unzähligen Lehrern in Deutschland (größtenteils verbeamtet), die wir dann einfach nicht mehr brauchen? Die Anforderungen an das Lehrpersonal werden sich drastisch ändern. Doch es dürfte auch Peer Steinbrück klar sein, dass die wenigsten Lehrer in der Lage sein werden, unserem Nachwuchs etwas in Sachen Computer, Internet oder Programmierung beizubringen. Geschweige denn ihnen Unternehmergeist einzuhauchen. Wer die Zukunft gestalten will, kann nicht von den Gestrigen lernen. Und die notwendige Umschulung könnte niemand bezahlen. Außerdem haben deutsche Schulen haben ganz andere Probleme. Bei einigen sind die Kinder froh, wenn sie ohne Prügel nach Hause kommen und ihre Jacke oder Turnschuhe behalten durften. In anderen, wenn sie die Sprache ihrer Klassenkameraden überhaupt verstehen. So schön der Wunsch nach Laptops für alle Kinder ja klingt – es ist nichts als eine hohle Phrase, die man zu Ende denken sollte, bevor man sie verkündet.

Während in den USA das Motto bereits „Tablet statt Tafel“ heißt, müssen wir noch begreifen, dass wir durch das Internet einen harten Bruch erleben, wie es ihn in der Menschheitsgeschichte zuvor nie gab: Es wächst eine Generation heran, bei der die tonangebende Generation bereits nicht mehr versteht, was vor sich geht. Und ein Tablet “made in Germany” ist ohnehin nicht in Sicht.

Die Schüler sind nicht das einzige Problem!

Umso mehr gilt: Nicht nur um die Kinder muss man sich sorgen, sondern vor allem um die s.g. „Digital Immigrants“ – jene Menschen, die mit CDs/Schallplatten, Büchern und Tageszeitungen aufgewachsen sind und die von der Digitalisierung genauso wenig verstehen, wie Steinbrück, Merkel oder Rösler. Leider sind es aber genau diese „Digital Immigrants“, die nun so tun, als könnten sie die digitale Zukunft unseres Landes gestalten. Daher muss sich unserer Regierung dringend um die Schaffung digitaler Kompetenzen für die Generation 40 plus kümmern. Ein volldigitales (Weiter-)Bildungssystem für alle Bürger, Online-Sprachkurse für Immigranten, Umschulungskurse für Arbeitslose usw.  - Sie werden es kaum glauben, aber dank des Internets macht Weiterbildung wirklich Spaß! Doch all diese Maßnahmen sind nicht geplant.

Teilweise kann man Peer Steinbrück sogar beipflichten: Bildung ist das wichtigste Thema von allen. Kein anderes Ressort bietet größere Chancen, um Deutschlands Wohlstand auch für die kommenden Jahre zu sichern. Und an keiner Stelle ist unser Kapital vor dem Hintergrund des Generationenvertrages fairer eingesetzt.

Die Studie D21-Digital-Index von TNS Infratest hat soeben wieder klargestellt, dass wir in Deutschland mehrere Nutzergruppen haben, die in der Online-Welt noch nicht angekommen sind. Zum einen sind nur ca. 77 Prozent der Deutschen überhaupt online. Von diesen 80 Prozent zählen 28,9% zu den s.g. „Außenstehenden Skeptikern“. Zu den „Häuslichen Gelegenheitsnutzern“ zählen 27,9%. Somit kann man feststellen, dass insg. nur 33 Prozent der Deutschen das Internet überhaupt professionell und vorwärtsgerichtet einsetzen.

Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel

Es ist im Übrigen falsch, einfach nur von einer „vierten industriellen Revolution“ zu sprechen. Um zu verstehen, was hier vor sich geht, sollten sich Politiker mit den s.g. Kondratjew-Zyklen befassen. Grundlegende technische Innovationen sorgen für eine Umwälzung in der Produktion und Organisation. Wir haben es mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Die (Wirtschafts-)Welt steht am Beginn einer neuen Ära. Damit eng verbunden ist eine Umverteilung des globalen Besitzes. Eine ehemalige Wissensgesellschaft, die sich den Luxus allgemeiner Verblödung erlaubt, hat in dieser Zukunft relativ schlechte Karten.

Umso wichtiger ist es, dass in unsere träge deutsche Politik endlich digitaler Gründergeist  Einzug hält. Wir brauchen hemdsärmelige Unternehmer, keine Redenableser oder Talkshowstafetten. Aber Steinbrück propagiert ja „wir brauchen eine Kultur des Mutes und des Scheitern-dürfens…“. Klingt auch toll, aber was bedeutet das eigentlich? Ein stabiler Gründer kommt ohnehin immer wieder auf die Beine – dafür braucht er keinen Zuspruch von Peer Steinbrück.

Entbürokratisierung, das wäre ein Thema! Ohne Statistiken genau zu kennen, dürften Gründungen in Deutschland zu den teuersten und kompliziertesten weltweit zählen. Begleitet von einem typisch deutschen Bürokratieaufwand, einem Fördermitteldschungel, durch den niemand mehr durchblickt, von Verwaltern, Zwangsmitgliedschaften bei IHK, Zwangsabgaben an die GEZ (wie auch immer sie sich nennt). Usw.

Deutschlands Gründer brauchen nicht unbedingt mehr Geld, wie Steinbrück fordert. Zu viel Kapital macht Gründer träge. Viele Gründer bootstrappen oder setzen auf die Lean-Startup-Strategie. Außerdem entstehen fast wöchentlich neue Inkubatoren und Investorenteams. Man hört von wenigen guten Gründerteams, die aufgrund fehlender Finanzierung ihr wichtiges Vorhaben nicht realisieren konnten. Kapital ist im Überfluss vorhanden und wird auch investiert, auch wenn Peer Steinbrück Recht hat, dass der Unterschied von Venture-Capital-Investments zwischen USA und Deutschland ungünstig ist. Doch es ist nicht an der Politik, dies zu ändern, sondern es ist Aufgabe der Startups zu beweisen, dass man ihnen vertrauen kann. Und wenn die Chancen groß genug sind, fließt nach den Gesetzen der Märkte ohnehin mehr Geld in die Startup-Szene. Die meisten Startups agieren Exit-getrieben und haben weniger den allgemeinen Wohlstand oder das Lösen gesellschaftlicher Probleme im Blick. Steinbrück und Co hingegen sollten lieber dafür sorgen, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland international wettbewerbsfähig werden, damit man sich in Deutschland die günstigen Talente aus dem Ausland leisten kann (diese sind ja dank Deutschlands miserablem Bildungssystem nach wie vor dringend benötigt).

Und sowieso: In Kapitalfragen ist die KfW gut ausgestattet (solange sie die Finger von den Lehman-Brothers dieser Welt lässt) und auch der s.g. High-Tech-Gründerfonds (der zwar leider nicht nur High-Tech-Investments macht) verfügt über ein pralles Portemonnaie. Sollte Peer Steinbrück also in diesem Kontext tatsächlich konkreter werden wollen, könnte er sich z.B. für das Beibehalten der Steuervergünstigungen für Business Angels stark machen. Dieses Gesetz ist ein Garant dafür, dass erfolgreiche Unternehmer ihre Gewinne in neue Unternehmen reinvestieren können. Ohne dieses Gesetz gäbe es vermutlich nur halb so viele Neugründungen. Die jetzige Bundesregierung möchte dieses Gesetz kippen.

Unzählige weitere ungelöste Aufgaben

Doch auch viele andere digitale Themen wollen gelöst werden. Man kann sie unter den Begriffen „Rechtssicherheit“ und „Barrieren abschaffen“ zusammenfassen. Seit Jahren schaut die deutsche Politik zu, wie ausländische Internetkonzerne wie Google, Facebook, Youtube etc. das Urheberrecht mit Füßen treten oder europaweit Steuerschlupflöcher nutzen. In Deutschland debattieren wir stattdessen müde über das typisch deutsche Thema Datenschutz, ohne auch nur ansatzweise ein Modell fürs Internet entwickelt zu haben.

Doch bei der unsäglichen Debatte ums Leistungsschutzrecht haben deutsche Politiker gerade erst wieder glorreich unter Beweis gestellt, dass sie nur eine Marionette der Lobbyisten großer Konzerne sind.

Auch Thema Internet-Zugang hatte Steinbrück ein Sätzchen im Gepäck: Einen Tag, nachdem die Deutsche Telekom die Internet-Flatrate für beendet erklärt hat, fordert Steinbrück, der Staat solle den Internetbreitband-Anschluss garantieren. Notfalls könne der Ausbau mit Infrastruktur-Anleihen finanziert werden, die Bürger kaufen könnten. Zum Zeitpunkt der Rede ein dankbarer Vorschlag. Aber natürlich ziemlicher Quatsch. Wenn die Regierung Geld in die Digitalisierung unseres Landes stecken möchte, dann bitte in die digitale Infrastruktur - und zwar ohne zusätzliche Belastungen. Dazu zählt auch die notwendige Zerschlagung der Deutschen Telekom. Flächendeckende Netzabdeckung (schnell, sicher, überall) ist eine sinnvolle Infrastrukturmaßnahme - möglicherweise die wichtigste überhaupt. Datenhighways sind die Autobahnen der Zukunft. Doch diese Aufgabe gehört nicht in die Hände eines fast privatisierten Konzerns, der zeitgleich Infrastrukturanbieter und Inhalte-Anbieter sein möchte. Ähnlich wie bei der Deutschen Bahn (die der Zerschlagung ja auch nur dank massivem Lobbyisten-Einsatz von der Schippe gesprungen ist). Der Bund hält derzeit 14,8 Prozent an der Deutschen Telekom.

Handlungsempfehlungen an die Politik

Das Thema ist insgesamt zu komplex, um es in einem kleinen Artikel zu lösen. Aber ein paar Handlungsempfehlungen möchten wir Peer Steinbrück mit auf den Weg geben:

1.)    (so traurig das ist) Deutsche Politiker der heutigen Generation sind glaubwürdiger, wenn sie nicht versuchen, den digitalen Vordenker zu mimen. Holt Euch externe Kompetenz! Schnell!

2.)    Wer als Politiker über digitale Visionen spricht, muss sie vorher zu Ende denken. Das gutbürgerliche Stammtischpalaver langt hier nicht. Wer über die digitale Zukunft spricht, muss sich mit ihren Auswirkungen beschäftigen und nicht einfach ein paar Trends aufwärmen, die seit Jahren bekannt sind. Sonst fliegen digitale Tomaten.

3.)    Die digitale Politik braucht vor allem Geschwindigkeit, Entscheidungsfreude und Radikalität. Denn das Internet verändert alles - in einem Tempo, bei dem unsere Politiker nicht Schritt halten können. Sie sind staunende Zaungäste. Nicht vergessen: das Internet gibt es seit 20 Jahren. Digitale Trends werden überall gesetzt, nur nicht in Europa. Doch die Chancen sind - speziell für Deutschland - größer als die Risiken. Bitte verpasst sie nicht.

4.)    Die Politik sollte Rahmenbedingungen schaffen, die Unternehmensgründungen vereinfacht. Wer in diesem Kontext nur von Kapitalaufstockung spricht, macht es sich (mal wieder) zu einfach. Das Zauberwort heißt Entbürokratisierung. Gleiches gilt für Rechtssicherheit. Schluss mit unangemessenen Abmahnungen und weg mit dem neuen Leistungsschutzrecht. Beides ist digitale Absurdität.

5.)    Wahrscheinlich der wichtigste Punkt: Das Internet ist vor allem eins: Disruptiv! Wer als Politiker über Deutschland digitale Zukunft spricht, muss die Wahrheit sagen. Hatte Bundeskanzler Helmut Kohl vor 23 Jahren noch davon gesprochen, dass es keinem schlechter gehen werde, aber vielen besser, so gilt mit Blick auf das digitale Zeitalter das Gegenteil. Das Internet wird in den kommenden Jahren mehr Arbeitsplätze kosten als schaffen. Alle großen Verwaltungsapparate (Versicherungen, Banken etc.) werden massiv Arbeitsplätze abbauen. Die Mitarbeiter werden durch effiziente Algorithmen ersetzt. Ebenso steuern wir auf das Ende des Beamtentums zu, weil es a) nicht mehr finanzierbar ist und b) ein Großteil der Aufgaben unserer Beamten künftig entfällt (eigentlich schon längst hätte entfallen müssen). Denn das Internet ist ein Effizienz-Turbo. Ein Kostenkiller. Gelebte Globalisierung. Es steht für maximale Transparenz der Märkte. Und deutsche Personalkosten sind nun mal international nicht wettbewerbsfähig. Der Grund liegt in der Verwaltung. Also lügt uns nicht an! Sprecht nicht über das Deutschland von heute oder morgen, denn das ist egal. Sprecht über das Jahr 2025 und danach. Über die Weichenstellung, den Umbau und die Folgen. Ehrlich und ungeschönt. Das Gute daran: Wenn wir diese Phase überstehen (und das wird sicher der größte Umbau, den Deutschland je erlebt hat), dann bleiben wir wettbewerbsfähig und steuern auf eine goldene Zukunft.

Fazit

Lieber Peer Steinbrück, versteh uns nicht falsch. Wir lieben das Internet und die Zukunft, die es ermöglicht. Die Konsequenzen sind durchaus positiv zu werten. Doch all diese Veränderungen werden kommen – da gibt es nichts zu diskutieren.Das sind keine Fragen, über die man als einzelnes Land diskutieren kann. Viele der großen Parteien haben dies noch nicht verstanden und präsentieren uns eine tägliche Kakophonie in Bundestag und Medien. Das Internet krempelt unser Leben um. Punkt. Der meistgenutzte Begriff ist (wie gerade erwähnt) „Disruption“. Doch wenn die Online-Industrie von „disruptiv“ spricht, dann meint sie damit den Wegfall ineffizienter Strukturen. Genau wegen dieser ineffizienten Strukturen (nennen wir sie Verwaltung oder Wasserköpfe) ist die alteingesessene Industrie so anfällig. Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist nun mal die Gerade. Folglich werden Unternehmen mit ineffizienten Strukturen durch Unternehmen mit effizienteren Prozessen ersetzt. Viele alteingesessene deutsche Unternehmen werden zeitnah verschwinden. Viele andere entstehen. Das Internet sorgt dafür, dass der Mensch entlastet wird und sich auf sich selbst und seinen eigentlichen Auftrag konzentrieren kann. Dies ermöglicht Wertschöpfung statt Verwaltung. Darin liegt die große Chance, aber auch das Ende der deutschen Gemütlichkeit. Nur wer selbstständig denkt und handelt, wird  in Deutschland eine Zukunft haben. Gewerkschaftszugehörigkeit ist ebenso ein Auslaufmodell wie die verkrusteten bürokratischen Strukturen, die unser Land seit Jahrzehnten auszeichnet. All dies hätte in den vergangenen Jahren ein Parcours-Lauf für die FDP werden können. Doch diese ist bekanntlich maximal gescheitert. Leider ist all dies auch das genaue Gegenteil dessen, wofür die SPD seit Jahrzehnten steht. Die Flügel der Parteien dehnen sich. Und somit fragen sich Nahles, Steinmeier und Gabriel sicherlich hinter vorgehaltener Hand, ob Steinbrück tatsächlich der richtigen Partei angehört. Denkt man einen Schritt weiter, dann dürfte jedem klar sein, dass die SPD per Selbstverständnis und Gewerkschaftsnähe das Internet eigentlich lieber abschalten müsste, als sich dafür einzusetzen.

Die Rede von Peer Steinbrück war insgesamt beliebig, doch sie hätte von Politikern jeder Partei stammen können. Sie hatte keine Ecke und keine Kante – geschweige denn eine Vision. Es war eine Rede für digitale Neulinge. Steinbrück hat bestenfalls an der Oberfläche gekratzt. Den Applaus auf der Next 2013 kann man daher als reine Geste der Höflichkeit werten. Doch vielleicht ist sie ein Anfang. Ein Hoffnungsschimmer, dass deutsche Politiker langsam begreifen, welch immense Chancen die Digitalisierung bietet. Was unser Land braucht, ist ein beherztes „Ja!“ zum Thema digitale Zukunft. Wir brauchen einen Internet-Minister. Wir brauchen digitale Vordenker. Wir müssen die Chancen ergreifen, aber die Risiken sehen. Das Internet ist super, aber bitte, bitte, gebt uns Politiker, die das auch verstehen.

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