Im Interview

Zalando-Gründer Robert Gentz

01/09/2015
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Robert, was war die größte Veränderung, die Zalando durchgemacht hat, seit Du im Jahr 2008 die ersten Schuhkartons gepackt hast?

ROBERT GENTZ: Das Unternehmen hat sich die ganze Zeit extrem verändert. Die erste große Veränderung war, als wir im Laufe von zwölf Monaten von 50 auf 500 Leute gewachsen sind. Das bedeutete natürlich Chaos, Chaos, Chaos. Der nächste große Schritt war, als wir angefangen haben, selbst in die Logistik zu investieren. Die dritte, allergrößte Veränderung haben wir Anfang des Jahres angestoßen: den Wandel von einem Handelsunternehmen zu einem Tech-Unternehmen. Das andere waren eher graduelle Veränderungen. Was wir jetzt machen, ist ein sehr stark gemanagter Schritt.

Warum wollt Ihr ein Tech-Unternehmen werden?

ROBERT GENTZ: Unsere Möglichkeiten sind viel größer geworden. Die Kunden benutzen immer mehr mobile Endgeräte. So können wir ganz anders mit ihnen interagieren. Sie können uns mitteilen, wo sie sind. Sie können mit ihrer Kamera Eindrücke sammeln. Sie sind nicht mehr offline, wenn sie in einem Laden sind. Das ist der eine Bereich. Auf der anderen Seite wollen wir Marken helfen, sich digital besser aufzustellen. Das geht weit über das Angebot „Gib uns dein Inventar und wir kümmern uns um den Rest“ hinaus. Das wird zwar ein sehr relevanter Teil bleiben. Aber auf der technischen Seite gibt es in Zukunft noch viel mehr Möglichkeiten.

Welche?

ROBERT GENTZ: Wir wollen von einem Handelsunternehmen zu einem Plattform-Unternehmen werden und ein Ökosystem für die Mode aufbauen. Den Entwicklern sagen wir, wir wollen das AWS der Modeindustrie sein.

Also Amazon Web Services (AWS) für die Mode?

ROBERT GENTZ: Ja. Wir wollen eine Plattform schaffen, die den Marken hilft, online ein gutes Geschäft zu machen. Und für den Konsumenten wollen wir zum Beispiel sorgen, dass er einen Schuh nicht innerhalb von drei Tagen geliefert bekommt, sondern innerhalb von 20 Minuten.

Mit Drohnen?

ROBERT GENTZ: Drohnen sind dafür gar nicht notwendig. Man muss nur anfangen, viel vernetzter und integrierter über die Modeindustrie nachzudenken. Etwa 95 Prozent der verfügbaren Modeartikel liegen in Geschäften und nur fünf bis zehn Prozent in zentralen Lagern. Wenn ich heute ein T-Shirt online bestelle, wird es in unserem Lager in Erfurt oder Mönchengladbach verpackt und verschickt. Aber wenn die Marke hier in Berlin einen Store hat, in dem genau das T-Shirt in der richtigen Größe liegt, ist es eigentlich nur eine technische Frage, wie es in den nächsten 20 Minuten direkt zu mir kommt. Mein Handy weiß ja genau, wo ich bin.

Ihr wollt alle Läden zu Euren Lagern machen?

ROBERT GENTZ: Wir wollen auch dem stationären Handel die Möglichkeit geben, an der Lösung dieses Problems zu partizipieren. Wenn der Laden auf diese Weise zusätzliche Nachfrage bekommt, weil wir eine Transaktion vermitteln können, dann ist der Laden happy, der Kunde ist happy und wir sind auch happy.

Dann werden Händler zu Lieferanten?

ROBERT GENTZ: Bei einer Plattform gehört es dazu, viel breiter darüber nachzudenken, wer eigentlich unsere Kunden sind. Aktuell sind unsere Kunden die Konsumenten. Die Marken waren in der Vergangenheit eher unsere Lieferanten. Auf einer Plattform könnten sie auch Kunden sein, für die wir ein Problem lösen. Und natürlich sind stationäre Händler auch potenzielle Kunden. Oder Stylisten. Das beste Beispiel ist unsere Shoppingberatung Zalon, wo Stylisten mit ihrer Beratung Geld verdienen können. Jeder, der im Modebereich tätig ist, ist ein potenzieller Kunde von uns.

Gibt es bereits Einzelhändler, die Ihr integriert habt?

ROBERT GENTZ: Wir führen Gespräche über die ersten Pilotprojekte.

Wie offen sind die Einzelhändler, für die Zalando bisher das große Feindbild gewesen ist?

ROBERT GENTZ: Vielleicht ist es das große Feindbild, wenn man Zalando als reinen Händler begreift. Aber wenn man Zalando als Modeplattform begreift, dann sind wir eher ein Problemlöser, also jemand, mit dem man gerne zusammenarbeitet.

Sehen Euch die Händler so?

ROBERT GENTZ: Es gibt schon einen sehr großen Zuspruch vor allem von der Markenseite. Natürlich sind die Händler jetzt noch ein bisschen reservierter.

Wie setzt Ihr den Wandel zur Plattform im Unternehmen organisatorisch um?

ROBERT GENTZ: Wir haben überlegt, wie wir Talenten im Unternehmen so viel Platz geben, dass sie sich entfalten können und dass wir ein Magnet für Talente werden. Vorher haben wir tatsächlich in sehr monolithischen Strukturen gearbeitet: zentrales Produktmanagement, zentrales Engineering, zentrale Qualitätssicherung. Für die Effizienz ist es wahrscheinlich ein gutes System. Aber es gibt den Leuten kein Gefühl dafür, warum sie das tun, was sie gerade tun. Wir hatten den Eindruck, wir sind nicht attraktiv genug, die Leute bekommen so nicht genug Möglichkeiten, sich selbst einzubringen und wirklich aus technischen Innovationen heraus zu denken. Wir haben das wochenlang vorbereitet und bei einem großen Event Anfang April alle an einem Standort zusammengeholt und gesagt: Jetzt ist Radical Agility.

Klingt, als hätte sich das ein Unternehmensberater ausgedacht …

ROBERT GENTZ: Wenn man abends so beim Bier sitzt, dann kommt man auf solche Sachen. Wir haben überlegt, ob wir es ein bisschen weniger radikal machen und vielleicht erstmal mit kleinen Themen anfangen. Aber dann haben wir gedacht: Wir müssen es richtig radikal machen, auch wenn es riskant wird.

Und was bedeutet das?

ROBERT GENTZ: Radical Agility basiert auf vier Pfeilern: Purpose, Autonomy, Mastery und Trust.

Also Zweck oder Ziel, Autonomie, Meisterschaft und Vertrauen …

ROBERT GENTZ: Es ist schwierig, das auf Deutsch richtig einzufangen. Ich würde es mehr Bestimmung nennen, also das, wofür ich mich jeden Tag motiviere. Ziel ist ein bisschen endlich und Zweck ist ein bisschen eng. Wahrscheinlich trifft es Bestimmung am besten, wobei es sich sehr esoterisch anhört. Also besser: Purpose.

Und wie wird das umgesetzt?

ROBERT GENTZ: Wir haben kleine Teams gebildet, ihnen viel Verantwortung gegeben und ihnen erklärt, wo wir eigentlich hinwollen. Die Teams überlegen dann selbst, wie sie dahin gelangen. Darum geht es bei Purpose: Warum machen wir das und wie können wir als Team darauf einzahlen? Autonomy heißt: Die Company stellt alles zur Verfügung, aber die Teams entscheiden selbst, wie sie dahin kommen und welche Werkzeuge sie verwenden. Mastery bedeutet: Jeder Mitarbeiter muss sich überlegen, was er in seinem Job anstrebt, und wir helfen ihm, das Ziel zu erreichen. Das ist sehr individuell.

Und wer behält den Überblick oder braucht man den nicht?

ROBERT GENTZ: Es ist grundsätzlich kein System der Kontrolle. Der letzte Pfeiler ist: Trust. Wir als Arbeitgeber vertrauen darauf, dass die Arbeitnehmer ihren Job richtig machen. Die Mitarbeiter müssen dem Arbeitgeber vertrauen, dass sie ihre Möglichkeiten auch bekommen. Am Ende sind wir ein datenbasiertes Unternehmen. Wir sehen, was in den jeweiligen Teams passiert.

Wie viele Entwickler arbeiten bei Euch?

ROBERT GENTZ: Im Moment haben wir eine Mannschaft von 800 Entwicklern. Die großen Standorte sind Berlin, Dortmund, Hamburg, Dublin und ganz neu eröffnet Helsinki. Aber mit 800 Leuten ist die große Aufgabe, die wir da vor uns haben, einfach nicht zu machen.

Wie viele Entwickler braucht Ihr?

ROBERT GENTZ: Wir glauben, dass wir eine Mannschaft von 3000 Top-Entwicklern brauchen, um diese Plattform aufzubauen. Wir müssen ein magnetischer Arbeitgeber für die Tech-Leute werden. In Europa gibt es nicht die eine Internet-Firma, zu der man als Entwickler oder Softwareingenieur unbedingt hinwill. In den USA gibt es Facebook, Google, vielleicht noch Twitter. Das sind die Unternehmen, die an wirklich großen Problemen arbeiten und die den Mitarbeitern große Freiheit geben. Wir wollen dieser Internet-Technologie-Arbeitgeber in Europa zu werden.

Ist Zalando für die Entwickler nicht einfach nur eine Modefirma?

ROBERT GENTZ: Das ändert sich gerade, weil wir mittlerweile viel offener darüber reden, mit was für Themen wir heute schon konfrontiert sind. Welche Herausforderungen wir bei Daten haben, bei Prozessen. Die Leute begreifen immer mehr, dass sie bei uns an großen Themen arbeiten können, wie es in Europa nur an sehr wenigen Stellen geht.

Eine aktuelle Herausforderung war, dass Ihr die Zahlungsmodalitäten verändert habt und plötzlich viele Leute ihre Rechnung nicht bezahlt haben. Mit einem besseren Scoring wäre das nicht passiert …

ROBERT GENTZ: Wir haben das Problem inzwischen gelöst. An manchen Stellen machen wir natürlich Fehler. Wichtig ist es, dass man die Fehler früh erkennt und dann auch schnell abstellt.

Denkt Ihr in solchen Fällen über Zukäufe nach. Es gibt Spezialisten für Scoring …

ROBERT GENTZ: Das ist eine unserer Kernkompetenzen. Wir haben mittlerweile ein Team von 70 Data Scientists, die an vielen verschiedenen Themen arbeiten, ein Bereich ist Scoring. Wahrscheinlich könnten wir bei Zalando 200, 300 Data Scientists sinnvoll einsetzen.

Findet Ihr die richtigen Leute in Berlin?

ROBERT GENTZ: Wir wollen den Standort Berlin weiter ausbauen. Aber wenn man den Anspruch hat, der europäische Tech-Arbeitgeber zu sein, dann muss man den Leuten auch die Möglichkeit geben, dort zu arbeiten, wo sie es wollen. Vor allem in Dublin gibt es ein enorm gutes Ökosystem für Data Scientists.

Wann überprüft Ihr, ob Radical Agility funktioniert?

ROBERT GENTZ: Wir sind ständig im Dialog mit den Teams und wir machen regelmäßig Umfragen. Wir sehen das auch an der Geschwindigkeit, wie wir bei den jeweiligen Themen vorankommen. Am meisten freut uns, dass die Motivation enorm hoch ist. Ein paar Wochen nach der Ankündigung gab es ein kleines Tief. Viele waren geschockt, weil sie gerade ihren Chef verloren hatten, und fragten sich, wie es nun weitergeht.

Wo sind die Chefs hin?

ROBERT GENTZ: Wir haben die Chefs aufgeteilt: Es gibt Delivery Leads und es gibt People Leads. Die einen sind für die Aufgaben verantwortlich und die anderen kümmern sich um die Belange der Mitarbeiter. Diese beiden Rollen passen nicht mehr in die klassische Struktur: Ich habe einen Chef und der sagt mir, was ich zu tun habe.

Klingt auch wie eine ziemliche Herausforderung …

ROBERT GENTZ: Das ist eine extrem starke Herausforderung für die Leute gewesen, ist es auch heute noch. Aber man merkt, dass es ein enormer Schub für die Motivation ist.

Gibt es ein Unternehmen, das Ihr zum Vorbild genommen habt?

ROBERT GENTZ: Natürlich sind Agilität und Autonomie Konzepte, die viele erfolgreiche Tech-Unternehmen im Silicon Valley verfolgen. Aber jeder macht es ein bisschen anders.

Ihr seid seit fast einem Jahr an der Börse. Was halten die Investoren von der neuen Art zu arbeiten?

ROBERT GENTZ: Wir haben sowohl vor als auch nach dem Börsengang gezeigt, dass wir wissen, was wir tun. Wir haben das Unternehmen sehr gut unter Kontrolle und wir sind sehr nah an den Mitarbeitern dran. Aber wir trauen uns Sachen zu machen, die sich andere vielleicht nicht trauen. Das hat sich in der Vergangenheit immer als sehr gut herausgestellt. Und ich glaube, die Investoren und der Aufsichtsrat vertrauen uns dabei.

Wie wichtig ist der Standort Berlin für Euch und wie zufrieden seid Ihr mit den Bedingungen hier?

ROBERT GENTZ: Berlin ist unserem Unternehmen und mir persönlich sehr ans Herz gewachsen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Zalando irgendwo anders so erfolgreich hätten machen können. Ich glaube, es gibt keine andere Stadt, wo man Technologie und Mode so verbinden kann, wie in Berlin. In San Francisco bekommst Du die Tech-Leute, aber da gehen die Mode-Leute nicht hin. In Los Angeles oder New York ist es umgekehrt. In Berlin dagegen gibt es eine sehr krasse Szene für Startups, und zugleich ist Berlin ein großer Anziehungspunkt für die Modewelt.

Es gibt also nichts, was die Politik verbessern kann?

ROBERT GENTZ: Das wichtigste für uns ist die Frage, wie wir internationale Talente zu uns bekommen. Alles, was mit Bürokratie und Ausländerbehörde zu tun hat, ist immer noch ein großes Problem. Es wird immer noch zu wenig Englisch gesprochen, es dauert alles sehr lange und man wird nicht sonderlich gut empfangen. Das andere ist das Thema Bildung und Technologie-Ausbildung.

Berlin rühmt sich, bei der Vernetzung von Startups und Hochschulen besonders gut zu sein. Können die Leute, die von den Unis kommen, gar nicht das, was ihr braucht?

ROBERT GENTZ: Es gibt sehr viel Vernetzung. Im Data-Bereich machen wir sehr viel mit der TU Berlin. Aber von der Ausbildung her könnte es noch eine Ecke besser sein.

Wie wollt Ihr weiter wachsen: andere Länder, neue Produkte?

ROBERT GENTZ: Wir wollen unser Kerngeschäft, das klassische Handelsgeschäft, optimieren. Es wächst weiter gigantisch, allein damit werden wir unseren Wachstumspfad gut einhalten können. Wir sind in 15 Ländern Europas vertreten und glauben, dass es mehr bringt, hier weiter in die Produkte zu investieren als in neue Märkte zu gehen. Parallel bauen wir die Einkaufsstadt, das neue Ökosystem, auf. Bei der Vernetzung der Offline- mit der Online-Welt gibt es viele Themen, die technologisch sehr herausfordernd sind. Es wird sicherlich noch ein, zwei Jahre dauern, bis diese Veränderungen sich materiell niederschlagen – aber dann auch mit sehr, sehr hohen Margen.

Das Interview führte Corinna Visser.

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