Im Interview

Sozialunternehmer Till Behnke

10/12/2015
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Was ist die Wirkung?

TILL BEHNKE: Es gibt drei soziale Säulen, die uns Menschen tragen: Beruf und Arbeitsumfeld, Familie und Freunde, die meist über ganz Deutschland verstreut sind, und Nachbarschaft. Aber wir haben immer weniger Kontakt zu den Menschen in unserem Haus, unserer Straße oder unserem Viertel. Wir vernachlässigen das in ihnen liegende Potenzial – selbst auf dem Dorf ist das so. Fakt ist aber, dass beim Blick auf die großen gesellschaftlichen Themen wie demografischer Wandel, Anonymisierung der Gesellschaft und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen mehr Nachbarschaft eine – wenn nicht die größte – Hilfe sein kann.

Was tragt Ihr dazu bei?

TILL BEHNKE: Mit Nebenan.de kann wieder mehr Nähe in den Nachbarschaften entstehen, damit sich Nachbarn mit gleichen Interessen oder ergänzenden Fähigkeiten finden und sich gegenseitig unterstützen. Es geht nicht darum, mit jedem Nachbarn befreundet zu sein. Aber die Nähe erzeugt eine ganz bestimmte Wirkung. Es geht wieder um ein Miteinander, und davon kann jeder in jeder Lebenslage profitieren. Hyperlokales Matchmaking sozusagen: Eine 68-jährige, pensionierte Mathelehrerin kann ihre Kenntnisse einem zwölfjährigen Nachbarsjungen vermitteln. Ein alleinstehender Mann, der seine zwei Katzen über Weihnachten nicht in eine anonyme Betreuung geben möchte, findet plötzlich eine junge Familie eine Straße weiter, die sich liebevoll um die Tiere kümmern wird.

Das könnte ich auch über Facebook organisieren. Warum brauche ich eine neue Lösung dafür?

TILL BEHNKE: Das liegt daran, dass wir jeweils an einem begrenzten Ort agieren. Jeder, der da wohnt, gehört dazu, kann mitlesen und reinrufen. Inhalte in unseren Nachbarschaften auf Nebenan.de sind geschützt und können von außen nicht gesehen werden. Wir möchten eine vertrauensvolle Umgebung schaffen, in der sich auch Nachbarn, die sich bisher nicht kannten oder neu sind, begegnen können. Auf Facebook findest du keinen, der sagt: ‚Ich habe meinen Geldbeutel an dieser Straßenkreuzung verloren.‘ Selbst wenn es Nachbarschaftsgruppen auf Facebook gibt, funktionieren sie eben nicht so. Auf der anderen Seite gibt es bereits Anbieter für Wohnungsvermittlung oder Restaurantempfehlung, aber es macht einen Riesenunterschied, ob die Leute, die seit zehn Jahren dort wohnen, ein Restaurant empfehlen, oder ob das ein Tourist macht. Die Relevanz kommt durch die Nähe und die Echtheit der Menschen.

Und warum macht Ihr Nebenan.de nicht als gemeinnützige GmbH?

TILL BEHNKE: Ich würde heute fast jedes soziale Unternehmen als normale GmbH gründen, weil ich eine möglichst große Wirkung erzielen will. In der Rechtsform der GmbH habe ich die größte Chance, genügend Kapital einzusammeln, um das wirklich groß zu machen und die Wirkung zu skalieren.

Das heißt, für Nebenan.de habt Ihr schon eine Finanzierung bekommen?

TILL BEHNKE: Zunächst haben wir den Start aus eigener Tasche finanziert. Jetzt haben wir Geld und weitere Mitstreiter aufgenommen, aber vereinbart, die Details der Runde nicht zu kommunizieren. [Anm. d. Red.: Nach Informationen der Redaktion gehören zu den Investoren von Good Hood Klaus Hommels (Lakestar) und Business Angels wie Home24-Mitgründer Philipp Kreibohm sowie Joana Breidenbach und Moritz Eckert von Betterplace. Lakestar hält demnach rund 18 Prozent der Anteile, Christian Vollmann 36 Prozent und Till Behnke 17 Prozent.]

Wie sieht Euer Geschäftsmodell aus?

TILL BEHNKE: Unsere Investoren glauben wie wir an beides: die gesellschaftliche Wirkung und das wirtschaftliche Potenzial. Unser Geschäftsmodell wird den Nutzern einen echten Mehrwert bieten. Wie es genau aussehen wird, steht in den ersten beiden Jahren nicht im Vordergrund.

Und dafür reicht das Geld?

TILL BEHNKE: Ja.

Ihr habt Investoren gewonnen, ohne ein Geschäftsmodell zu haben?

TILL BEHNKE: Unsere Priorität ist, dieses Nachbarschaftsnetzwerk für die Nachbarn wirklich relevant zu machen. Wir müssen nicht sofort unsere Kosten decken.

Und die Investoren verzichten auf Rendite?

TILL BEHNKE: Sie haben investiert, ohne dass jetzt schon klar ist, wie und wann genau wir Umsatz machen werden.

Aber eine Rendite ist vorgesehen, oder ist sie ausgeschlossen?

TILL BEHNKE: Eine gesunde Rendite ist angestrebt. Die gesellschaftliche Wirkung hat aber Priorität.

Wie weit seid Ihr?

TILL BEHNKE: Wir haben für den Anfang nur einzelne Nachbarschaften ausgewählt. Die geschlossene Beta-Phase ist jetzt beendet. Seit Ende November kann jeder in Deutschland mit seiner Nachbarschaft starten. Dazu muss er mindestens zehn Leute finden, die sagen: ‚Wir wollen, dass es das hier gibt.‘

Und wo könnte das potenzielle Geschäftsmodell liegen?

TILL BEHNKE: Ich nehme mal als Beispiel den Rudolfkiez in Friedrichshain. Da gibt es 1100 Haushalte, und wir haben dort inzwischen schon mehr als 200 Nutzer, die tauschen, leihen und schenken ganz eifrig. Zum Teil fragen die Anwohner schon danach, warum das Restaurant an der Ecke sich nicht anmelden und seine Mittagskarte online stellen darf. Aktuell können nur Privatpersonen etwas posten. In dem Moment, in dem man lokale Einzelhändler und Dienstleister auf die Plattform holt, kann Geld fließen: die Modedesignerin, die auf ihre neue Kollektion hinweisen will und auf Knopfdruck hunderte Haushalte in ihrem direkten Einzugsgebiet erreicht, oder die Physiotherapiepraxis. Das hat für beide einen großen Wert. Wo erreicht man mit klassischer Werbung genau diese Nähe? Wie das bezahlt wird, haben wir noch nicht konzipiert. Aber wir wollen das Gebührenmodell einfach halten.

Die ersten dürfen die Plattform kostenlos nutzen und irgendwann müssen sie dafür bezahlen?

TILL BEHNKE: Für private Nutzer ist und bleibt die Plattform kostenfrei. Wir haben das in unseren Fragen und Antworten genau erklärt. Irgendwann soll sich die Plattform über die Einbindung von Einzelhandel und Dienstleistungen refinanzieren. Wir haben auch erklärt, warum wir eine normale GmbH sind und tatsächlich irgendwann Überschüsse machen und auch Gewinne an unsere Investoren ausschütten wollen. Aber meine tiefste Überzeugung ist, dass das im Sinne der Sache ist. Wir treten an, um das ganz groß zu machen. Ich möchte nicht nur der Feinkostladen sein.

Ihr habt in Berlin angefangen, wo Ihr selbst wohnt. Wie kommt die Idee in den Rest der Republik?

TILL BEHNKE: Es gibt schon Nachbarschaften in Frankfurt am Main, München, Hamburg, Nürnberg, in der Nähe von Köln und in Krabbenkamp in Schleswig-Holstein, die jetzt im Test laufen. Insgesamt sind es 30 Nachbarschaften. Jeder, der will, kann eine Nachbarschaft eröffnen und auf Nebenan.de zum Leben erwecken.

Wie groß ist der ideale Kiez?

TILL BEHNKE: Es gibt eine absolute kritische Masse. Ab 100 aktiven Nutzern fängt das Matchmaking an. Leute bieten etwas an oder suchen etwas, und das Ganze klappt am Ende auch. Und es gibt eine relative kritische Masse, die wird bei etwa zehn Prozent der Haushalte erreicht. Die absolute kritische Masse ist einfacher herzustellen, wenn man die Nachbarschaft sehr groß macht, während eine Durchdringung von zehn Prozent umso einfacher ist, je kleiner der Kiez ist. Etwa zwei- bis dreitausend Haushalte ist die optimale Größe, denke ich. Am Ende ist aber entscheidend, wie jede einzelne Nachbarschaft gewachsen ist und wie sich die Menschen mit ihrer Nachbarschaft identifizieren. Der Berliner Wrangelkiez ist sehr groß, aber den kann und sollte man nicht unterteilen.

Wie viele Nutzer habt Ihr bereits?

TILL BEHNKE: Es sind jetzt schon einige tausend Aktive.

Und wen sprecht Ihr vor allem an?

TILL BEHNKE: Eine Zielgruppe sind auf jeden Fall junge Rentner, die haben am ehesten Zeit und Lust, uns zu verbreiten, und wären oftmals gerne mehr ins Nachbarschaftsleben integriert. Und dann natürlich junge Eltern, die an allem rund um den Alltag mit Kindern interessiert sind. Und Studenten, weil sie schnell Online-Tools adaptieren.

Was ist das Ziel für 2016?

TILL BEHNKE: Der deutschlandweite Rollout. Wir wollen im kommenden Jahr tausend Nachbarschaften in Deutschland haben. Wir wissen inzwischen, wie die Dynamik funktioniert und wie wir schnell auf 50 oder 100 Nutzer pro Nachbarschaft kommen.

Dann kommt der Netzwerkeffekt hinzu.

TILL BEHNKE: Genau. Irgendwann entsteht eine Eigendynamik, sodass wir keine Energie mehr von außen zuführen müssen. Es würde nicht skalieren, wenn wir jeden Kiez von hier aus dauerhaft befeuern müssten. Aber am Anfang helfen wir, zum Beispiel wenn einer ein Nachbarschaftsfest organisieren will.

Dann zahlt Ihr das Bier.

TILL BEHNKE: Dann zahlen wir auch mal das Bier, genau. Oder wir mieten Bierbänke und Tische. Wir merken, dass in den Nachbarschaften, wo Leute Events organisieren, plötzlich die Registrierungen ansteigen.

Das Secret Ingredient ist also, auch offline präsent zu sein?

TILL BEHNKE: Ich kann mir kein anderes Online-Tool vorstellen, das so direkt und so nah Einfluss auf das echte Leben hat. Facebook ist toll, ich bin global vernetzt, aber alles virtualisiert sich. Ich verbringe mehr Zeit damit, Fotos online zu teilen und anzugucken, als wirklich da zu sein. Nebenan.de ist ein Werkzeug, um direkt im echten Leben etwas zu verändern, die auf dem Spielplatz verlorene Mütze wiederzufinden oder jemand zu finden, der mal mit dem Hund spazieren geht. Das sind alles die Dinge, die jetzt schon passieren. Es gibt nicht nur die eine Sache. Unterm Strich erhöht es die Lebensqualität für die gesamte Nachbarschaft.

Das Gespräch führte Corinna Visser.

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