Im Interview

Ansgar Oberholz

01/07/2015
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St. Oberholz: Zwischen Café und Startup-Hub

Ansgar, welche Frage hat man Dir in den vielen Interviews noch nicht gestellt?

ANSGAR OBERHOLZ: (lacht) Genau diese. Wir haben eine Zeit lang Interviews mit unseren Stammgästen für unseren Blog gemacht, in der Tradition von Max Frisch, die 50 wichtigsten Fragen des Lebens. Und die letzte Frage war immer: Was wärst du gerne noch gefragt worden? Das war immer das Schwierigste für die Leute. Was kann ich Dir darauf antworten? Wann kommt Dein nächster Roman heraus? Manchmal langweile ich mich bei den Fragen von Interviewern, weil sie recht erwartbar sind.

Dann hoffen wir, dass Du Dich heute nicht langweilst. Wie hat das mit dem St. Oberholz angefangen?

ANSGAR OBERHOLZ: Vor zehn Jahren haben wir das St. Oberholz eröffnet im alten Aschinger-Gebäude am Rosenthaler Platz – was ja, Ende des 19. Jahrhunderts als Bierquelle von den Aschinger-Brüdern erbaut, an sich schon eine wilde Gastronomie-Geschichte hat. Auch heute sind bei uns wie damals die Gründer- und Bohemien-Szenen miteinander verwoben. Hier verkehren die „digitalen Bohemiens“, ein Begriff, der vor zehn Jahren aufkam, den heute aber kaum noch jemand verwendet. Ich verstehe uns sehr in der Tradition dieses Gebäudes und in der Tradition Berlins. Und fühle mich verpflichtet, dies wach zu küssen und fortzuführen.

Wie sah es hier vor zehn Jahren aus?

ANSGAR OBERHOLZ: Damals haben alle geschrien: „Ihr seid verrückt, am Rosenthaler Platz ist noch nie was gelaufen. Das Haus ist verflucht!“ Hier sah es aus wie kurz nach dem Krieg, mit Brachen und Buden und Ratten. Eine Beate-Uhse-Filiale gab es gegenüber und ein paar Galerien, aber auch viel Leerstand. Das Aschinger-Gebäude stand ebenfalls leer. Mich hatte es von Anfang an gepackt, diese orientalisch wirkenden Fenster, dieses Eckgebäude, diese Geschichten, die sich in dem Gemäuer abgespielt haben.

Was hat sich in den zehn Jahren hier verändert?

ANSGAR OBERHOLZ: Berlin im Ganzen hat sich verändert. Im Vergleich zu früher ist plötzlich Geld da – eine ungewohnte Situation für die Stadt. Und das spiegelt sich auch im Publikum des St. Oberholz wider. Früher war es eher prekär – Freelancer, Glücksritter. Heute sind es immer noch Glücksritter, aber längst nicht mehr so prekär. Es gibt insgesamt mehr Sicherheit. Jeder, der ein Startup gründet, weiß, er könnte zur Not woanders unterschlüpfen, wenn es schiefgeht. Das hat sich schon sehr verändert. Aus Freelancern sind Startup-Unternehmer geworden, die serienmäßig einen Airbag eingebaut haben.

Was macht Euren Erfolg aus?

ANSGAR OBERHOLZ: Wir haben versucht, in allen Bereichen – konzeptionell, im Design und auch inhaltlich – immer zwei, drei Schritte vorneweg zu sein. Auf der anderen Seite lassen wir uns beeinflussen und treiben vom Markt und von dem, was unserer Meinung nach die Leute brauchen könnten. Wir versuchen aber nicht, die Leute zu erziehen, sondern sie behutsam und liebevoll an Neues heranzuführen und dabei gut zu unterhalten. Das fängt beim Kaffee an und hört eben beim Coworking auf. Die Kombination von Apartements, Coworking und Café ist heute noch einzigartig in Berlin.

Hat sich das einfach so entwickelt? Wie viel davon war Kalkül?

ANSGAR OBERHOLZ: Vor zehn Jahren gab es den Begriff Coworking ja noch gar nicht. Wir dachten nur, es ist wichtig, dass die Leute im Café auch arbeiten können. Also brauchten wir Wi-Fi, aber auch überall Stromanschlüsse. So banal es klingt, das war einer der Erfolgsfaktoren. Am Ende sind es die Menschen, die dieses Gefühl der Kraft des Möglichen erzeugen, wir versuchen nur den perfekten Mutterboden dafür zu schaffen, und das streng genommen schon seit zehn Jahren.

Berlin hat sich total verändert in den zehn Jahren, gerade auch der Kiez um Euch herum. Welche Rolle hat das St. Oberholz dabei gespielt?

ANSGAR OBERHOLZ: Ich denke, dass das St. Oberholz die Veränderung in diesem Bereich von Mitte und natürlich auch diese Ansiedlung von Startups mitbeeinflusst und geprägt hat. Der Tip schrieb gerade „St. Oberholz ist eine Art Nullpunkt im Koordinatensystem der Startupszene Berlins.“ Vor sechs bis acht Jahren war das Oberholz der einzige öffentliche Ort, der das widergespiegelt und aufgegriffen hat. Aber wer weiß schon, ob die Henne oder das Ei zuerst da war. Zum Geschäft gehört auch Demut, ein Begriff, der uns leitet, weil wir nicht nur vorneweg rennen und denken, so muss es jetzt sein, sondern wir lassen uns immer wieder beeinflussen und versuchen, neue Dinge aufzugreifen – auch inspiriert durch andere Metropolen. Wir sehen uns aber in einem engen Zusammenspiel mit der Stadt Berlin, mit der Szene, mit dem Markt und mit den Menschen.

Und jetzt habt Ihr Euch verleiten lassen zu einem zweiten Café und auch zu einem Coworking-Space …

ANSGAR OBERHOLZ: Ja, wir expandieren gerade, wir verdoppeln fast die Fläche, die wir bewirtschaften. Alle Gebäude gehören demselben Hausbesitzer, der uns immer wieder ermutigt hat, für die Standorte innovative Konzepte zu entwickeln. Diesmal ist es eher eine Expansion im Bereich Coworking und Apartments, weil das Café in der Zehdenicker Straße sehr klein ist. Wir haben praktisch das Konzept um die Kaffeemaschine, die unten in einer kleinen Halle steht, herumgebaut, weil wir davon überzeugt sind, dass Kaffee der Ursprung ist. Wenn du in unserem neuen Café sitzt, das jeder nutzen kann, siehst du durch ein altes Fabrikfenster in den Coworking-Bereich. Die Cafégäste sehen die Coworker, und die Coworker schauen dem Barista bei der Arbeit über die Schulter, und doch sind die Bereiche sanft getrennt voneinander. Das alte Handwerk und das Digitale. Eine perfekte Symbiose aus Café und Coworking, ich glaube, das gibt’s an keinem anderen Ort. Das Konzept Coworking, ist meiner Meinung nach nur eine Erweiterung der uralten Kaffeehausidee und nicht andersherum.

Was erwartet die Leute, auch preislich?

ANSGAR OBERHOLZ: Eine Basic-Membership für den Coworking-Bereich kostet 159 Euro netto, da hast du aber auch alles drin, einen Schlüssel, 24/7-Zugang, Tee- und Kaffee-Flatrate zum Selberbrühen mit dem St.-Oberholz Blend. Du kannst einfach rein, plug and play, und hast die gesamte Infrastruktur. Zur Eröffnung haben wir noch ein Special. Wer sich noch im Juli anmeldet, erhält einen Monat für 79 Euro netto. Die Besonderheit ist, dass du beide Orte gleichzeitig und gleichwertig nutzen kannst, du kannst dich also entscheiden, ob du lieber in der Zehdenicker Straße oder zwei Blöcke entfernt in der Rosenthaler arbeiten möchtest. Am neuen Standort wird der Schwerpunkt auch auf Teamräumen liegen, für die es eine immense Nachfrage gibt.

Und wird das gut angenommen?

ANSGAR OBERHOLZ: Es wird gut angenommen, aber noch sind Plätze frei. Es ist ja auch fast noch eine Baustelle, aber wem wir das unfertige Projekt auch zeigen, es trifft immer auf Begeisterung. Wenn es fertig ist, wird es sicher schnell eine Warteliste für die Teamräume geben. Wie wir es zuletzt am alten Standort, am Mutterschiff hatten.

Und da war ja auch noch was mit Kaffee …?

ANSGAR OBERHOLZ: Ja! Bürokultur und Kaffeekultur hängen eng zusammen. Mehr und mehr gibt es gerade in der Startup-Szene ein Bewusstsein, was eigentlich guter Kaffee ist und was den Unterschied zu anderen Kaffees ausmacht. Die Wirkung dieses Getränks ist wichtig für gutes Arbeiten. Koffein ist letztendlich nichts anderes als eine legale Droge, die die Blut-Hirn-Schranke ungefiltert durchdringt und direkt auf das Zentralnervensystem wirkt. Gesteigertes Konzentrationsvermögen, Euphorie und gemindertes Schlafbedürfnis sind die bekanntesten Effekte. Koffein und Kreativität sind alte Geschwister. An unserem neuen Standort wird sich das noch deutlicher im Konzept widerspiegeln.
Du kannst Filterkaffee in Thermoskannen vorbestellen und dir jeden Morgen abholen und den St. Oberholz Kaffee in Bohnenform mit nach Hause nehmen. Wir arbeiten eng mit Bonanza Coffee Roasters zusammen, die unsere Blends kreieren und rösten, einen Filterkaffee und einen Espresso.

Wenn Du jetzt noch mal vor der Entscheidung stündest, wo fange ich an? Würdest Du wieder nach Berlin kommen, hätte die Stadt immer noch diesen Sog auf Dich?

ANSGAR OBERHOLZ: Ich würde mich auf jeden Fall wieder für Berlin entscheiden. Vielleicht aus anderen Gründen. 1993 war Berlin so eine Art riesiger Abenteuerspielplatz, sehr analog. Damals gab es noch keine Blogs oder Ähnliches, Informationen über illegale Partys wurden größtenteils per Telefon, Festnetztelefon, weitergegeben. Zugezogene, die den alten Zeiten nachtrauern, vergessen manchmal, dass sie, auch wenn sie noch so subkulturell und künstlerisch leben, ein Teil der Veränderung sind, ein Zahnrad im ganzen Gefüge Berlin. Aber gerade diese Veränderung macht die Stadt aus. Und mich freut es, das mitgestalten zu dürfen. Im vergangenen Jahr durfte ich mich häufiger im Ausland aufhalten. Ich dachte längst, der Hype wäre vorbei, aber wenn du dich als Berliner zu erkennen gibst, fallen die Leute fast auf die Knie. Das hat mir noch mal einen frischen, versöhnlichen Blick auf die alte Dame an der Spree ermöglicht.

Hat Dich die Veränderung schon immer angetrieben?

ANSGAR OBERHOLZ: Eigentlich schon. Mit 13 oder 14 bekam ich meinen ersten Computer, einen Commodore 128, und ich habe angefangen, selber Software zu schreiben, Abrechnungssoftware für Ärzte, weil mein Vater Arzt war. Ich habe Informatik studiert, aber nicht zu Ende gebracht. Es gab bei mir schon immer diese tiefere Verbundenheit mit Innovation, Disruption, mit digitaler Technik. Das fasziniert mich. Alles, was noch kommen wird, ist ein total spannendes Feld. Ich glaube an die Kraft des Möglichen, sie schwingt ein wenig im St. Oberholz mit und zieht die Menschen an.

Es gibt ja eine Menge Anekdoten über Meetings, die im St. Oberholz stattfanden.

ANSGAR OBERHOLZ: Ja. Es gibt zum Beispiel das Gerücht, das ich aber nie bestätigt bekommen habe, dass das entscheidende Hintergrundgeschäft zwischen Zalando und den Investoren im St. Oberholz über die Bühne gegangen ist. Vielleicht ist es nur ein Mythos, dass man im St. Oberholz rumhängen muss, um dort eventuell Investoren zu treffen. Ich weiß aber, dass viele Meetings immer noch im St. Oberholz stattfinden. Es ist ein Ort der perfekten Verschmelzung zwischen Konferenzraum und Restaurant. Und es gibt viele interessante Stammgäste wie Bob Rutman, der Künstler, der in New York in der Factory von Andy Warhol gearbeitet hat. Der ist heute 84 und kommt jeden Morgen ins St. Oberholz. Wir haben mit ihm einen Deal vereinbart: Er bekommt das Frühstück umsonst, und dafür schenkt er uns ab und zu ein Bild. Aus all diesen Puzzlestücken entspringen wunderbare Anekdoten.

In Deinem Buch hast Du über flache Hierarchien geschrieben, und es klang so, als wäre das gescheitert. Ist das wahr?

ANSGAR OBERHOLZ: Ja, leider. Keine Hierarchien war ein Versuch, den wir im St. Oberholz gestartet haben und der komplett gegen die Wand gefahren ist. „Ihr seid das Team, Ihr teilt Euch natürlich die Schichten selber ein, Ihr entscheidet auch, wann wir abends zumachen“ war die Devise. Aber in der Gastronomie funktioniert es doch nicht ohne gewisse Ansagen, Grenzen und Regeln. Das geht los bei der Schichtplaneinteilung und hört auf bei der Frage, wie lange die optimale Extraktionszeit des Kaffees ist. Da muss man Standards setzen. Heute arbeiten wir aber als gastronomischer Betrieb mit ungewöhnlich flachen Hierarchien.

Lass uns über Politik sprechen. Du bist ja im Beraterkreis der Stadt.

ANSGAR OBERHOLZ: Ja, in der Startup Unit. Die besteht aus sieben Untereinheiten, deren Arbeitsgruppen hochkarätig aus der Verwaltung und den Unternehmen besetzt sind. Den Vorsitz bilden immer jemand aus der Wirtschaft und jemand aus der Politik – insgesamt eine sehr lebendige Runde. Ich bin als Kenner der Szene mit drin, da ich aus erster Hand erfahre, was die Startups der Stadt eigentlich benötigen. Am Ende soll ein Papier entstehen, das direkt an den Regierenden Bürgermeister geht und maßgeblich die Entscheidungen der Politik beeinflussen soll.

Mit welcher Zielsetzung?

ANSGAR OBERHOLZ: Das ganz große Ziel ist es, Berlin zu der europäischen digitalen Wirtschaftsmetropole zu machen, und zwar bis 2020. Das ist tatsächlich ein visionäres Ziel. Berlin war ja vor dem Krieg ein Magnet – wegen der wilden Mischung aus Kunst und Industrie. Jetzt ist Berlin dabei, sich neu zu definieren, und es ist ziemlich klar, dass die Digitalwirtschaft im Verbund mit der Kreativwirtschaft der Stadt die neue Richtung geben könnte.

Wie genau kannst Du Dich da einbringen?

ANSGAR OBERHOLZ: Ein Hauptthema ist zum Beispiel: Warum funktionieren Mitte und der Rosenthaler Platz als -Startup-Quartier, welche Faktoren ziehen Startups an? Das interessiert vor allem die Politik, die darin einen Wirtschaftsfaktor erkannt hat und versteht, dass man das fördern kann. Meine Rolle ist es zu erklären, warum dort Büros, Arbeitsplätze und Innovationen entstehen und wie man darauf behutsam Einfluss nehmen könnte. Als Experte und Zeuge bilde ich eine schöne Brücke zwischen kreativem Arbeiten – ich schreibe ja auch –, der Startup-Szene und solch handfesten Sachen wie Gastronomie.

Stellt die Politik denn die richtigen Weichen? Oder gibt es noch Verbesserungspotenzial?

ANSGAR OBERHOLZ: Die Öffnung der Politik hin zu den echten Akteuren, also nicht zu den großen bekannten Lobbyisten, sondern wirklich zu den einzelnen Künstlern und einzelnen jungen Menschen, die gerade dabei sind, ein Startup zu gründen: Das ist ganz neu und passiert an vielen Ecken. Vielleicht ist der neue Regierende Bürgermeister Michael Müller noch nicht so tief in der Materie drin, aber die Leute in der Senatskanzlei, mit denen ich zu tun habe, sind sehr sensibilisiert dafür. Und ich hoffe, dass der Mut der Politik, die Bürger mit einzubinden, sich bald auch in politischer Handlung widerspiegelt. Berlin muss jetzt die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Ohne die zertrampelt man langfristig auch das stärkste Pflänzlein.

Wenn wir uns jetzt in zehn Jahren hier wieder träfen, was erzählst Du mir dann, was in der zweiten Dekade passiert ist?

ANSGAR OBERHOLZ: Eigentlich ist das Ziel, wie ich es auch schon bei dem Produkt Kaffee angedeutet habe, noch mal in Ruhe nach der Neugründung zu schauen, wie man unsere Marke ausweiten kann: ob das eine Servicedienstleistung ist oder ob das ein echtes Produkt ist. Diese Entscheidung steht noch aus, würde mich aber in jedem Fall reizen.

Du wirst dem Startup-Prinzip also treu bleiben …

ANSGAR OBERHOLZ: Es war für mich immer unheimlich schwer, die Finger von einer unternehmerischen Idee zu lassen. Wir haben in den letzten Jahren ja auch ständig weiter gegründet und das Konzept verändert und erweitert. Als ich noch die Werbeagentur hatte, gab es viele Nebenprojekte. Auch wenn nichts draus geworden ist, probieren musste ich es. Es war für mich schon immer schwer, Nein zu sagen. Aber das Neinsagen ist eine wichtige Qualität, die ich in den letzten Jahren erst so richtig optimiert habe. Der Moment der Ausübung der Negation kostet viel Kraft, aber die bekommt man in der Zeit danach gut verzinst zurückgezahlt!

Das Gespräch führte Jan Thomas.