Bringt’s das?

Eine Analyse des Lieferdienst-Booms

31/07/2015
header image

Der Hunger ist groß. In den vergangenen zwölf Monaten waren Online-Lieferdienste für Lebensmittel und fertige Mahlzeiten immer wieder in den Schlagzeilen – wegen spektakulärer Übernahmen oder der hohen Summen, die Investoren in diesen Bereich gesteckt haben.

Rocket Internet hat insgesamt knapp 500 Millionen Euro in die Online-Lieferplattform Delivery Hero investiert und hält nun 40 Prozent der Anteile an dem Berliner Unternehmen. Delivery Hero wiederum übernahm Anfang Mai in der Türkei für 589 Millionen Dollar den türkischen Wettbewerber Yemeksepeti, kurz zuvor hatte die britische Firma Just Eat in Australien sogar fast 700 Millionen Dollar für Menulog ausgegeben. Der Lieferservice Deliveroo aus London sicherte sich in einer aktuellen Finanzierungsrunde gerade 70 Millionen Dollar für die internationale Expansion. Hinzu kommen immer neue Lieferdienste, die die ganze Wertschöpfungskette entlang reichen: angefangen von den Lieferdiensten für Lebensmittel (Bringmeister, Shopwings) über portionierte Lebensmittelpakete zum Selberkochen (HelloFresh, MarleySpoon) und Lieferplattformen für fertige Gerichte und Fast Food (Delivery Hero und Takeaway.com) bis zu Lieferanten von feinen Restaurants (Deliveroo, Foodora oder neu: Urban Taste).

Viele neue Geschäftsmodelle

Holtzbrinck Ventures investierte bereits 2010 in Delivery Hero und ist auch bei EatFirst und HelloFresh engagiert. „Das Thema ,Lebensmittel online bestellen und liefern’ geht jetzt in die Breite“, sagt Holtzbrinck-Ventures-Partner Rainer Maerkle. „Es entstehen viele neue Geschäftsmodelle, so wie wir es auch in anderen Bereichen des E-Commerce zuvor gesehen haben. Das ist ein klares Signal, dass der Markt jetzt reif ist für diese Angebote.“ Das große Problem im Lebensmittelversand ist die Frische“, sagt Joachim Pinhammer, Research Director Retail Technology bei Planet Retail. „Es ist wichtig, dass sie den Kunden auch antreffen.“ Denn im Gegensatz zu Büchern oder Schuhen kann man Pakete mit frischen Lebensmitteln nicht einfach irgendwo abstellen oder abgeben. „Das macht die Logistik in diesem Bereich sehr komplex und treibt die Kosten in die Höhe“, sagt Pinhammer. Er ist überzeugt, dass hier die Einstiegsbarrieren für Startups relativ hoch sind und etablierte Lebensmittelhändler wie Edeka, Rewe oder Kaiser’s bessere Chancen auf Erfolg haben, weil sie ihre Kunden gut kennen und vor Ort einen Lieferdienst leichter organisieren können. Tesco in Großbritannien nennt er als ein erfolgreiches Beispiel.

Was die etablierten Supermärkte zuletzt angetrieben hat, ist die Sorge, dass Amazon bald auch hierzulande in die Lieferung frischer Lebensmittel einsteigen könnte – und den Lebensmittelhandel damit ähnlich verändert, wie dies zuvor etwa beim Buch- oder Modehandel der Fall war. AmazonFresh ist derzeit in New York und San Francisco aktiv und wird wohl im September in London starten. Nicht ohne Grund: Denn der britische Lebensmittelhandel ist etwas anders strukturiert als der deutsche. Unter anderem die hohe Ladendichte hierzulande erschwert das Geschäft für Online-Anbieter. „Mit Aldi oder Lidl in Wettbewerb zu treten, das geht schief“, prognostiziert Pinhammer. Er bezweifelt daher, dass einfache Lebensmittelbringdienste in Deutschland funktionieren. „Ich denke aber, dass höherwertige Waren oder auch Convenience-Angebote, also etwa portionsweise zusammengestellte Lebensmittel mit Rezepten zum Selberkochen, bessere Erfolgsaussichten haben.“ Gute Chancen schreibt er Versendern zu, die spezielle Zielgruppen ansprechen oder sich auf Spezialitäten konzentrieren, wie Wein, Kaffee oder auch Müsli.

Es komme eben auf das Geschäftsmodell an, konstatiert Maerkle von Holtzbrinck Ventures (HV). „Supermarkt online – das funktioniert nicht, vor allem nicht in Deutschland“, sagt auch er. Das liege nicht nur an den extrem niedrigen Margen im deutschen Lebensmittelhandel, sondern auch an der geringen Bereitschaft der Kunden hierzulande, für zusätzlichen Service zu bezahlen. Andere Modelle, wie etwa das von HelloFresh oder Blue Apron, die frische Zutaten plus dazugehörige Rezepte im Paket liefern, hält er dagegen für attraktiv. „Diese Modelle sind extrem ertragsstark“, sagt Maerkle.

Derzeit herrsche so etwas wie eine Goldgräberstimmung im Online-Lebensmittelmarkt. Ob der Hype gerechtfertigt ist, sei Ansichtssache. „Es werden weiter viele neue Modelle auf den Markt kommen. Und natürlich werden nicht alle erfolgreich sein, aber das ist normal“, sagt der HV-Partner. „Der Markt befindet sich immer noch in einer sehr frühen Phase. Im Moment gehen viel Kapital und viele gute Leute in diesen Bereich, und auch wir werden dort weiter investieren. Food steht bei uns weiter im Fokus.“ Die europäischen Firmen seien in diesem Bereich sehr gut aufgestellt, meint Maerkle, und hätten im Vergleich etwa zu ihren amerikanischen Konkurrenten die Nase vorn.

„Der deutsche Markt für Lieferdienste ist riesig“

„Wir sehen, dass Online-Lieferdienste bei Fast Food sehr gut laufen“, sagt Pinhammer von Planet Retail. „Das passt zum Lebensstil der Großstädter, die nicht viel Zeit haben und Wert auf Bequemlichkeit legen.“ Daher ist er auch überzeugt, dass die Geschäftsmodelle von Portalen, die die Angebote von Lieferdiensten integrieren, erfolgreich sein können. Kai Hansen, Gründer und Partner von Rheingau Founders, hat Lieferando mit aufgebaut und ist heute Aktionär von Takeaway.com. „Der deutsche Markt für Lieferdienste ist riesig, viel größer, als die Leute denken“, sagt Hansen und fügt hinzu: „Und er ist erstaunlich unerschlossen. Die Wachstumsraten für nach Hause geliefertes Essen liegen bei mehr als zehn Prozent pro Jahr.“

Etwa 20.000 Lieferdienste gibt es in Deutschland, und die allermeisten Bestellungen laufen immer noch über das Telefon. „Aber das Verhalten der Kunden ändert sich gerade, die Leute rufen nicht mehr an, sondern bestellen online oder per App“, erklärt Hansen. Und da in dem stark fragmentierten Markt mit tausenden kleinen Anbietern nicht jeder eine eigene App entwickeln kann oder will, schlössen sich immer mehr von ihnen den großen Plattformen an. „Es ist ein superprofitables Business mit hohen Skaleneffekten. Denn pro zusätzliche Bestellung entstehen nur wenig Kosten“, meint Hansen. „Hinzukommt, dass die Kunden sehr treu sind und immer wieder bestellen.“ Und schließlich sei „das Schöne an den Marktplätzen ja, dass sie für alle Einkommensgruppen funktionieren. Auch der Investmentbanker bestellt sich gerne einmal eine Pizza.“

Während Hansen das Plattform-Modell für hochprofitabel hält, ist er bei den Lieferdiensten wie EatFirst oder Urban Taste skeptischer. „Ich denke, das Geschäft ist nicht so spannend wie das der Plattformen“, sagt er. „Der Aufwand ist größer, das Geschäft komplexer und es ist schwer, gute Restaurants zum Mitmachen zu bewegen. Denn die Qualität ist nicht so gut wie vor Ort. Und skalieren lässt sich das auch nicht so gut.“ Auch seien die Kunden gerade in Deutschland besonders preissensitiv. „Ich bezweifle, dass die Zielgruppe für diese Angebote groß genug ist“, sagt Hansen.

Ähnlich sei das bei den verschiedenen Abo-Modellen, die sich an die Leute richten, die selber kochen wollen. Hier liege der Fokus auf gesund und frisch, und damit werde eine Zielgruppe angesprochen, die tendenziell bereit sei, mehr Geld auszugeben. „Aber auch diese Modelle funktionieren nur mit einer ausgefeilten Lieferkette, was die Komplexität erhöht“, meint Hansen. Maerkle hält es dagegen für eine konsequente Erweiterung der Marke, dass Delivery Hero mit Urban Taste nun selbst Essen ausliefern will. „Wir werden uns sehr genau ansehen, was passiert“, sagt Maerkle. Eine Überhitzung des Marktes für Lieferdienste sieht auch Hansen nicht. „Die Unternehmen haben gezeigt, wie gut sie skalieren können und dass sie extrem profitabel arbeiten. Sie wissen, was sie tun.“ Zu den hohen Summen, die gerade bezahlt werden, sagt er: „Alles noch im grünen Bereich.“

Nicht alles läuft reibungslos

Mehr als eine Milliarde Dollar Venture Capital ist 2014 allein in den Bereich Food Delivery geflossen, haben die Analysten von CB Insights beobachtet. Die britische Online-Plattform Just Eat ist an der Börse derzeit 4,2 Milliarden Euro wert, GrubHub aus den USA kommt auf rund 2,5 Milliarden Euro Marktkapitalisierung und bei seiner jüngsten Finanzierungsrunde ist Delivery Hero nach eigenen Angaben mit nahezu drei Milliarden Euro bewertet worden. Sind diese hohen Summen gerechtfertigt? Wann ist die Sättigung erreicht? Welche Engagements werden den Investoren noch sauer aufstoßen? Dass nicht alles reibungslos läuft, zeigt sich bereits: Der Bringdienst Shopwings, der in München und Berlin für die Kunden einkaufen ging, hat in Deutschland das Geschäft nach nur zehn Monaten wieder eingestellt. Die Köche von EatFirst machen Sommerpause, offen ist, wann die Unterbrechung endet und wie es dann weiter geht.

Was Investoren und Unternehmer anlockt, ist der riesige Markt. Denn auch wenn der Online-Einkauf für viele Kunden in Deutschland längst selbstverständlich geworden ist, bei Lebensmitteln gibt es gerade hierzulande noch viel Nachholbedarf. Nach Angaben der Marktforscher von Planet Retail werden derzeit rund zehn Prozent des deutschen Einzelhandelsvolumens online abgewickelt. Bei Lebensmitteln ist es nicht einmal ein Prozent. Daher sind die Wachstumsraten enorm. Der Online-Lebensmittelmarkt habe in Deutschland im Jahr 2014 ein Volumen von zwei Milliarden Euro erreicht, ein Plus von 38 Prozent im Vergleich zu 2013, heißt es im Report „The State of Online Grocery Retail in Europe“ der Marktbeobachter von Syndy.